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Ausgabe 98-2/2004

IDENTITY KILLS

Produktion: Living Films; Deutschland 2003 – Regie und Buch: Sören Voigt – Kamera: Markus Stein – Schnitt: Gergana Voigt – Musik: Jonny Blender, Hannes Biegel, Markus Trockel – Darsteller: Brigitte Hobmeier (Karen), Daniel Lommatzsch (Ben), Mareike Alscher (Fanny), Julia Blankenburg (Sara), Nicole Krämer (Susanne) – Länge: 81 Min. – Verleih (35mm): EXIT Film Distribution, München, Tel. 0174-8918830, e-mail: berndbrehmer@freenet.de – Altersempfehlung: ab 14 J.

Eine junge Frau steht vor einer Vitrine eines großen Kaufhauses. Regungslos blickt sie durch die Scheibe auf die dahinter stehenden Glasfiguren. Kurz darauf hält sie eine eben solche in ihren Händen und hat damit das Paradoxon des eigenen Zustandes vor sich: Glas, dessen Eigenschaft meist nur darin zu bestehen scheint, die eigene Existenz zu verleugnen, um das dahinter Liegende "aufzusaugen" und es unserem Blick freizugeben. Es bezieht seine Daseinsberechtigung scheinbar nur aus der Welt, die es umgibt. Das Eigene, wenn man so will, wird dabei oft übersehen. Letztlich liegt darin wohl auch ein grundlegend menschlicher Konflikt, nicht nur das "Draußen" aufzunehmen, sondern es mit dem "Drinnen" in Einklang zu bringen und umgekehrt. Diese Fähigkeit, wenn sie sie denn jemals besessen hat, scheint der 24-jährigen Karen, die wir gleich zu Beginn des Films in eben jenes Kaufhaus begleiten, immer mehr abhanden zu kommen.

Nach einem Aufenthalt in einer Psychiatrie versucht Karen sich wieder am Leben außerhalb der Klinik. Doch nicht nur bei ihrem Freund Sven, der sie rücksichtslos ausnutzt, scheitern ihre Anstrengungen, in "geordnete" Bahnen zu finden. Mit Augen, die schier alles um sich herum aufsaugen, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, irgendetwas würde gefiltert, geordnet oder sortiert werden, bewegt sie sich sodann durch Berlin. Auf der Suche. Doch diese Stadt ist in den Bildern von Markus Stein kein Ort mehr der Kontraste, sondern nur noch eine verschwommene, undefinierbare Gesamtbewegung. Dort gibt es nichts mehr, was auch nur im Ansatz von der eigenen Existenz berichten könnte. Und so scheitert Karen mit ihren fast schon mechanischen Versuchen, durch Hochzeit und Autokauf in eine (Erwachsenen-)Welt hineinzukommen, deren Vertreter den eigenen Zukunftsversprechungen ohnehin selbst nicht mehr zu trauen scheinen.

Sören Voigt (Jahrgang 1968) zeichnet in seinem zweiten Film ein Bild der Gesellschaft, in der sich junge Menschen nur noch durch die ständige Bewegung behaupten können und nur so der drohenden Haltlosigkeit zu entkommen scheinen. Ein Leben mit der dauernden Veränderung, deren Protagonisten austauschbar sind. So wie die junge Frau, für die Sven eine Geburtstagsparty gibt, ohne sie richtig zu kennen und dabei Karen demütigt, da sie den gedankenlosen Lauf der Dinge stört. Für sie liegt die einzige Flucht nur noch darin, in neue Rollen zu schlüpfen und dabei letztlich moralische Grenzen zu durchbrechen.

Seine verstörende Intensität gewinnt der Film neben dem hervorragenden Spiel von Brigitte Hobmeier sicherlich auch aus der Tatsache, dass Sören Voigt bei den Dreharbeiten auf ein Drehbuch verzichtete und auf Grundlage einer Szenenfolge drehte. Dadurch gibt er ein sehr nahes Bild von der Welt ab, die er darstellt. Die Handkamera und die überzeugenden Laiendarsteller tragen ebenfalls einen wesentlichen Teil dazu bei. Alles in allem eher ein Film, der Zustände beschreibt, als dass er nach Erklärungen suchen würde. Aber das alleine kann manchmal schon erhellend genug sein.

Emanuel Socher-Jukic

 

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