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Ausgabe 98-2/2004

DIE HÖLZERNE KAMERA

THE WOODEN CAMERA

Produktion: Odelion / Tull Stories / RG & Associates; Frankreich / Großbritannien / Südafrika 2003 – Regie: Ntshavheni Wa Luruli – Buch: Yves Buclet, Peter Speyer – Kamera: Gordon Spooner – Darsteller: Junior Singo (Madiba), Dana de Agrella (Estelle), Innocent Msimango (Sipho) u. a. – Länge: 90 Min. – Farbe, 35mm – Weltvertrieb: Fortissimo Films, Amsterdam, Tel. +31-20-627 3215, e-mail: info@fortissimo.nl – Altersempfehlung: ab 14 J.

Kayelitsha, ein Township nahe Kapstadt, kurz nach Beendigung der Apartheid. Den beiden dreizehnjährigen Freunden Madiba und Sipho fällt buchstäblich eine Leiche vor die Füße. Im Aktenkoffer des Toten finden sie zwei Schätze: Eine Videokamera und eine Pistole. Madiba wählt die Kamera, die er mit einer hölzernen Verkleidung vor neugierigen Blicken und Fragen schützt. Sipho wählt die Waffe, um sich damit die verlockende Großstadt zu erobern.

Mit der getarnten Kamera fängt Madiba zunächst das Leben in seinem Township ein, dann zieht es ihn auch nach Kapstadt, wo er dem fremden Luxus durch das Objektiv nachspürt. Durchs Schaufenster filmt er ein Mädchen, das im Laden ein Buch klaut. Madiba sucht und findet Estelle in der Stadt. Die beiden freunden sich langsam an. Sipho macht mittlerweile mit der Waffe "Karriere". Aus dem coolen Posieren mit der Pistole werden bald erste kriminelle Handlungen. Aus geschnüffeltem Klebstoff werden härtere Drogen. Drogenhandel und kleine Raubüberfälle folgen, Sipho avanciert zum Bandenboss. Er mischt sich bei Madiba ein, will ihm Estelle abspenstig machen. Seinen alten Freunden im Township gibt er Geld und Diebesgut, aber er erschreckt sie auch mit gefährlichen Spielen mit seiner Waffe. Madiba versteht seinen Freund nicht mehr.

Madiba und Estelle verbringen immer mehr Zeit miteinander. Sie zeigt ihm ihr Zuhause: eine luxuriöse Villa in einem weißen Stadtviertel Kapstadts, mit Swimming Pool und Blick auf den Tafelberg. Estelles Vater, ein prominenter Arzt, verbietet ihr den Umgang mit Nicht-Weißen. Ein Grund mehr für Estelle, sich sowohl mit Madiba als auch Sipho zu treffen. Sie nimmt Madiba zu ihren Musikstunden bei Mr. Shawn mit. Der (weiße) Musiklehrer hat auch schon zu Apartheid-Zeiten die Townships besucht. Der Junge vertraut ihm und zeigt ihm als einzigem seine Filme. Mr. Shawn ermutigt Madiba, weiter zu filmen. Und er ermutigt Estelle zur Freundschaft mit Madiba. Die Dinge spitzen sich zu, als Sipho bei einem Überfall auf einen Geldtransporter angeschossen wird und im Krankenhaus stirbt. Als Madibas Vater die Kamera entdeckt und für Alkoholnachschub versetzen will, kann Madiba sie noch retten und verlässt gemeinsam mit Estelle Kapstadt, um woanders neu zu beginnen.

Die Jugendjury des neu eingeführten Wettbewerbs "14plus" auf der Berlinale 2004 hat "Die hölzerne Kamera" mit dem Gläsernen Bären ausgezeichnet. Diesen Preis erhält der Film wirklich zu Recht. Regisseur Ntshavheni Wa Luruli, in Johannesburg geboren und nach seinem Regiestudium bei Milos Forman Regieassistent bei Spike Lees "Malcolm X" und "Jungle Fever", gelingt mit seinem zweiten Spielfilm ein eindringliches Porträt des Alltags dreier Heranwachsender im südafrikanischen Kapstadt.

In der tristen Welt des Townships geht es darum, sich selbst zu erfinden. Madibas kleine Schwester tanzt sich mit Phantasie in eine schönere Welt. Sipho inszeniert sich als Gangster, posiert cool mit der Pistole, setzt die Mütze gewollt lässig-schief auf, eignet sich "Gangster"-Gestik an. Er definiert sich über die Waffe, die ihm Macht und Besitz verspricht und ihn am Ende tötet. Der kindlichere Madiba wiederum erfindet sich als Filmemacher. Er beobachtet genau, findet zum Teil recht poetische Bilder im Elend, die kleine Schwester beim Tanzen etwa. Seine gefilmte Welt ist geheimnisvoller, schöner und seltsamer als die Realität. Die Kamera vermag ihn erst zu Estelle und schließlich auch aus der Sackgasse Township zu führen. Im symbolischen Sinne sieht Madiba durch den Sucher seiner Kamera die Möglichkeiten einer anderen Welt, eines anderen Lebens.

"Die hölzerne Kamera" ist vor allem auch ein Film über den Aufbruch ins Erwachsensein. Madiba ist eine gelungene Identifikationsfigur fürs junge Publikum. Nicht nur ergreift er die Initiative für sein Leben und verfolgt hartnäckig sein Ziel gegen alle Widerstände, er dient auch als moralische Instanz. Den kriminellen Weg seines Freundes Sipho lehnt er ab. Madiba unterscheidet zwischen gut und schlecht, richtig und falsch. Dennoch zeichnet der Film keine eindimensionalen Charaktere. Madiba muss erst lernen, anderen zu vertrauen. Sipho ist nicht durchweg schlecht, er trifft nur eine verhängnisvolle Wahl mit der Waffe und sein Untergang bis zum konsequent tragischen Ende findet Schritt für Schritt statt. Bei all dem lässt der Film jedoch nicht vergessen, dass alles auch ganz anders für Sipho hätte kommen können, dass auch er eine Chance verdient hätte.

Lediglich das "dunkle Geheimnis" von Estelles Vater, schwarzafrikanische Vorfahren nämlich, wirkt aufgesetzt. Als Erklärung für sein an die Tochter gerichtetes vehementes Umgangsverbot mit Schwarzen ist es überflüssig; als Angehöriger des weißen Establishments ist seine Ablehnung hinreichend begründet.

"Die hölzerne Kamera" fängt auf anschauliche Weise die unterschiedlichen Facetten südafrikanischer Gegenwart ein: den krassen Gegensatz zwischen dem Elend der Townships und den eleganten Vierteln der wohlhabenden (weißen) Bevölkerung Kapstadts; die Jugendkriminalität und Drogenproblematik; den in den Köpfen der Menschen verwurzelten Rassismus, der nicht automatisch mit der Abschaffung der Apartheid verschwindet. Madiba und seine Freundin Estelle bleiben unverstanden in ihren Welten, von ihren Angehörigen, die in diesem Jahrhunderte währenden Denken verhaftet sind. Indem Madiba und Estelle Township und Villenviertel hinter sich lassen, erteilen sie dem alten Afrika eine Absage. Ihre gemeinsame Flucht ist der Aufbruch in das neue Afrika, in eine Zukunft mit besseren Perspektiven. Die beiden sind Vertreter einer neuen Generation, Hoffnungsträger, die das Post-Apartheid-Afrika nun mitgestalten und aufbauen müssen. Das alles ist spannend erzählt, ohne unangenehm zu moralisieren, und regt nachhaltig zum Nachdenken an.

Ulrike Seyffarth

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 98-2/2004 - Interview - "Es liegt in unseren Händen"

 

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