Produktion: Lemming Film, Amsterdam, in Koproduktion mit A Private View, Gent / NPS. Hilversum; Niederlande / Belgien 2010 – Regie: "Ellen Smit" – Buch: Mieke de Jong, nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Joke van Leeuwen – Kamera: Theo Bierkens – Schnitt: Ot Louw – Darsteller: Kenadie Jourin-Bromley (Viegelchen), Huub Stapel (Warre), Joke Tjalsma (Tine), Madelief Vermeulen (Loetje), Diederik Ebbinge (Retter/Feuerwehrmann), Ties Dekker (Bor) u. a. – Länge: 78 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Delphis Films, Montreal, e-mail: distribution@delphisfilms.com – Altersempfehlung: ab 10 J.
Was dem Vogelkundler Warre da eines Tages buchstäblich vor die Füße fällt, lässt sich nicht leicht einordnen: Ist das nun ein Vogeljunges mit menschenähnlicher Gestalt oder doch eher ein winziges Menschenkind mit Flügeln? Letzteres steht für Warres Frau Tine fest, die sich mütterlich dem kleinen Wesen annimmt, es großzieht und darauf besteht, dass es seine Würmer ordentlich mit Besteck isst. Viegelchen (weil es das "Ö" und alle Vokale außer "I" nicht aussprechen kann) fliegt aber trotz Mäntelchen und Sprechunterricht ganz nach Vogelart weg. Tine ist darüber bekümmert und auch besorgt, ob ihr Ziehkind denn in der Welt draußen zurecht kommen wird. Wenigstens richtig verabschieden will sie sich von Viegelchen. Also machen sie und Warre sich mit Butterbroten und Schlafsack ausgestattet auf den Weg, querfeldein, durch Dorf, Stadt und Wald Richtung Süden. Unterwegs treffen sie Menschen, denen Viegelchen begegnet ist und die sie auf ihrer Suche ein Stück begleiten. Immer wieder verpassen sie nur knapp ihr geliebtes Viegelchen, bis sie am Meer ankommen und Abschied nehmen können. Fliegen bedeutet eben wegfliegen – aber vielleicht ja ebenso zurückkehren, im nächsten Frühjahr.
Vorlage für den phantasievollen Film ist das preisgekrönte Kinderbuch von Joke van Leeuwen, das über die Niederlande hinaus bekannt ist und unter dem Titel "Viegelchen will fliegen" auch für den Deutschen Jugendbuchpreis 2000 nominiert war. Es ist die parabelhafte Geschichte des kleinen Vogelmädchens, das von den Eheleuten Tine und Warre liebevoll aufgezogen und doch eben auch flügge wird. Reizende Menschen zeigt uns der Film, allesamt liebenswert und ein bisschen verschroben. Der aus Film und Fernsehen auch hierzulande bekannte Huub Stapel und Joke Tjalsma sind als warmherziges älteres Paar unschlagbar und machen den Film an sich sehenswert. Besonderen Charme bezieht der Film aus seiner zauberhaften Sprache, der man auch ohne Niederländischkenntnisse gerne lauscht – das wird vermutlich keine noch so sensible Synchronisation bewahren können. Tines und Warres Suche nach Viegelchen macht den Film überwiegend zum Roadmovie, dessen episodisch aneinandergereihte Etappen und Begegnungen allerdings recht langatmig geraten sind.
Viegelchen ließe sich als eine Art Engel verstehen, in jedem Falle ist es Projektionsfläche für die vielfältigen Wünsche und Sehnsüchte der Menschen, die auf das winzige Wesen treffen. Für die nicht mehr ganz junge Tine ist es das Kind, das sie nie hatte, für den Ornithologen Warre ein einzigartiger Fund. Das einsame Mädchen Loetje sieht in Viegelchen die ersehnte beste Freundin und Spielgefährtin, während der wackere Feuerwehrmann erst in eine Sinnkrise gerät, weil Viegelchen sich nicht von ihm retten lassen will, um sich dann zuguterletzt dank seiner zu bewähren. Viegelchen aber lässt sich von niemandem vereinnahmen, Freiheit ist seine Vogelnatur und Bestimmung. Und doch fühlen sich alle, nachdem sie Viegelchen kennengelernt und wieder "verloren" haben, besser.
So poetisch und anrührend die Geschichte und seine Botschaft, so ambivalent der Film. Freiheit als höchstes Gut – was im von der Autorin selbst hinreißend illustrierten Kinderbuch gelingt, missglückt im Film ein Stück weit: Wenn Tine Viegelchens Flügel unter einem Mäntelchen versteckt, funktioniert das im Buch als behütende Maßnahme. Im Film jedoch entsteht der Eindruck, dass damit schamhaft die Andersartigkeit vertuscht und verleugnet wird. Möglicherweise besteht der entscheidende Unterschied in dem gemalten Fantasiewesen des Buchs einerseits und dem eben nicht komplett computergenerierten oder am Tricktisch entstandenen Vogelwesen des Realfilms andererseits. Denn auch das hinterlässt einen schalen Beigeschmack: Die Darstellerin des winzigen Vogelmädchens ist die mittlerweile siebenjährige Kenadie Jourdin-Bromley aus Kanada, die an primordialem Zwergwuchs leidet. Diese seltene, gendefektbedingte Wachstumsstörung geht einher mit einer verringerten Lebenserwartung sowie Sprach- und Entwicklungsstörungen. Kenadie ist eine kleine Berühmtheit mit eigener Website, die Filmemacher sind auf sie durch eine TV-Dokumentation aufmerksam geworden. Im Presseheft wird Kenadies Schicksal mit keinem Wort erwähnt, was falsch verstandene political correctness sein mag. Was bleibt, ist das ungute Gefühl, dass hier ein – noch dazu behindertes – Kind wie eine Kuriosität zur Schau gestellt und seine Kleinwüchsigkeit als Mittel zum Zweck benutzt wird. Da mag es purer Zufall sein, dass sich die tatsächliche Regisseurin vom Film distanziert hat (offiziell, weil der Film nach Test-Screenings um zehn Minuten gekürzt wurde) und Ellen Smit ein Phantom bzw. Pseudonym ist.
Ulrike Seyffarth
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 124-2/2010 - Hintergrund - IEP!
Inhalt der Print-Ausgabe 122-2/2010
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