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Ausgabe 122-2/2010

TANZTRÄUME – JUGENDLICHE TANZEN "KONTAKTHOF" VON PINA BAUSCH

Produktion: Tag/Traum Filmproduktion, in Koproduktion mit WDR und Arte; Deutschland 2010 – Regie: Anne Linsel, Rainer Hoffmann – Buch: Anne Linsel – Kamera: Rainer Hoffmann – Schnitt: Mike Schlömer – Länge: 92 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – Verleih: Real Fiction – Altersempfehlung: ab 12 J.

Vor sechs Jahren feierte der Dokumentarfilm "Rhythm Is It" von Thomas Grube und Enrique Sánchez-Lansch im Berlinale Special einen gefeierten Einstand. Wie der Tanzpädagoge Royston Maldoon und der Dirigent Sir Simon Rattle mit Berliner Jugendlichen geduldig und mühevoll eine Tanzaufführung von Igor Strawinskys "Le Sacre du Printemps" einstudierten, das wollten auch im Kino viele Zuschauer sehen. Nun hat das Projekt mit "Tanzträume" einen würdigen Nachfolger gefunden.
Das Regieduo Anne Linsel und Rainer Hoffmann begleitete fast ein Jahr lang 46 Jugendliche aus zwölf Wuppertaler Schulen, die sich mit professioneller Unterstützung das Stück "Kontakthof" der Tanzlegende Pina Bausch aneigneten. Der Film enthält zugleich die letzten Filmaufnahmen und das letzte Interview mit der weltberühmten Choreographin, die am 30. Juni 2009 mit 68 Jahren an Krebs gestorben ist. Mit ihrem 1978 in Wuppertal uraufgeführten Stück "Kontakthof" schrieb Pina Bausch Ballettgeschichte: Indem sie dafür auch Tänzer im Rentenalter castete, brach sie mit dem bis dahin geltenden Jugendkult in der Tanzkunst. Zehn Jahre später variierte sie das Werk unter dem Titel "Kontakthof mit Damen und Herren ab 65", indem sie es ganz mit Laien inszenierte. Die jüngste Variante "Kontakthof mit Teenagern ab 14" ist somit die dritte Version. Darin geht es um Formen menschlicher Annäherung, um das Aufeinanderprallen der Geschlechter, um die Suche nach Zuwendung und Aufmerksamkeit. In dieser Version kam es Pina Bausch, die mit ihrem Beharren auf Poesie und Schönheit in der Tanzkunst weltweite Beachtung fand, vor allem darauf an, die Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren zu ermuntern, "sie selbst zu sein" und Tanz als Kunstform einer neuen Generation zugänglich zu machen.

Bei der Schüler-Variante wurden die gleichen Kostüme wie vor 30 Jahren, die gleiche Choreographie, das gleiche Bühnenbild und mit wenigen Ausnahmen die gleichen Sprechtexte verwendet. Während in der Senioren-Version die Darsteller ab 65 ihre weitgespannten Lebenserfahrungen einbringen konnten, setzten die Schüler ab 14 auf ihre Unerfahrenheit, Frische und Direktheit. Pina Bausch kam zunächst in Abständen und gegen Ende zu allen Proben bis zur Premiere im November 2008, doch die eigentliche Probenarbeit leisteten die ehemaligen Bausch-Tänzerinnen Jo-Ann Endicott und Bénédicte Billiet. Bewundernswert, mit welcher Geduld, Ausdauer und Sensibilität sie die Schülerinnen und Schüler begleiteten, motivierten und antrieben – von der Auswahl der ersten Tänzer bis hin zur Premiere.

Der Film profitiert enorm von dem engen Vertrauensverhältnis, das Regisseurin Anne Linsel zu Pina Bausch aufbauen konnte. Die ebenfalls in Wuppertal lebende Filmemacherin begleitete Bauschs Arbeit journalistisch seit dem Start des neu gegründeten Tanztheaters Wuppertal 1973 und drehte bereits drei Dokumentarfilme über die Tänzerin. Anne Linsel und der Kameramann und Koregisseur Rainer Hoffmann konnten aber auch rasch das Vertrauen der Jugendlichen gewinnen. So werden die Zuschauer Zeuge, wie schwer sich die Schüler tun, Barrieren abzubauen und Berührungsängste zu überwinden. Wir sehen, wie sie an sich zweifeln und kurz vor dem Aufgeben stehen. Wir sehen aber auch, wie sie neuen Mut schöpfen, mehr aus sich herauszugehen, wie sie ihrem Körper zu vertrauen lernen und damit auch ihren Mittänzern. Nicht nur in solchen Momenten zeigten die beiden Tänzerinnen und Probenleiterinnnen, Jo Ann Endicott und Bénédicte Billiet, ihr großes pädagogisches Geschick und Einfühlungsvermögen. Das Wichtigste, das die Jugendlichen von Pina Bausch gelernt haben, ist nach ihrer Meinung, "dass man mit seinem ganzen Körper Gefühle ausdrücken kann". Faszinierend ist zudem, mit welchem Respekt die Schüler der Tanzlegende entgegentreten und sich die altgedienten Trainingsleiterinnen dem Urteil der Meisterin stellen. In dem spannenden Prozess wird auch sichtbar, wie die Heranwachsenden nicht nur an tänzerischem Ausdruck gewinnen, sondern selbst ins Stadium des Erwachsenseins eintreten.

Reinhard Kleber

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 122-2/2010 - Interview - Die Jugendlichen wussten, dass sie sich auf uns verlassen konnten

 

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Ausgabe 122-2/2010

 

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Interviews

Bezar, Miraz - Kindheit in Diyarbakir heißt auch, mit Gewalt konfrontiert zu sein| Linsel, Anne und Rainer Hoffmann - Die Jugendlichen wussten, dass sie sich auf uns verlassen konnten| Lu, Zhang - Man kann den ganzen Film auch als Traum von Chang-ho sehen| Ziegenbalg, Oliver - Ich möchte, dass die Menschen so miteinander umgehen wie in meinen Filmen|

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