(Interview zum Film TANZTRÄUME – JUGENDLICHE TANZEN "KONTAKTHOF" VON PINA BAUSCH)
KJK: Ihr Film ist ein Dokumentarfilm über ein Tanzprojekt, das klingt nicht unmittelbar wie ein jugendaffines Thema. Warum halten Sie ihn für Jugendliche dennoch wichtig?
Anne Linsel: "Ich denke schon, dass er etwas für Jugendliche ist. Jugendliche spielen die Hauptrollen. Jugendliche können ihren Altersgenossen zeigen, wie man mit Kunst umgeht, mit Vorurteilen, die man dann revidieren kann, wie Freundschaften entstehen, wie man sich selbst weiterentwickeln kann. Ich denke also, der Film ist für Jugendliche sehr geeignet."
Rainer Hoffmann: "Ich würde sogar sagen, der Film ist auf Jugendliche genau zugeschnitten."
Wie kam es denn zu dem Filmprojekt und davor zu dem Tanzprojekt?
Anne Linsel: "Pina Bausch hat 1978 das Stück ‘Kontakthof’ mit ihren Tänzern einstudiert und sie hat damals gesagt, ich könnte die ganze Zeit zugucken und sie würde auch gerne wissen, wie sich das anfühlt, wenn ihre Tänzer 60 oder 70 Jahre alt sind. Da das aber noch etliche Jahre gedauert hätte, kam sie auf die Idee, das Stück mit Senioren, mit Laien, zu proben, mit Damen und Herren ab 65. Das war im Jahr 2000 und ein Experiment mit sehr großem Erfolg. Das Stück wird immer noch gespielt, obwohl einige der Senioren mittlerweile schon gestorben und andere hinzugekommen sind. 2007 kam dann die Idee auf, das auch mit Jugendlichen zu machen. Als ich von der Idee hörte, dachte ich sofort, das ist ein Filmstoff. Ich habe sie dann gefragt und sie hat unter der Bedingung zugesagt, dass wir die einzigen sind, die dort drehen, damit die Jugendlichen nicht permanent gestört werden. Es durfte kein Zeitungsartikel erscheinen oder irgendein anderer Medienrummel in dieser Zeit entstehen. Wir waren also die einzigen und das war ein großes Glück."
War das nicht auch für Pina Bausch und Sie als Drehteam ein sehr riskantes Unternehmen? Einige der Jugendlichen waren doch erst 14 und von einer nicht kalkulierbaren Gefühlslage.
Anne Linsel: "Natürlich konnte das scheitern, aber das war auch ein sehr spannender Prozess. Ich habe beide vorherigen Versionen gesehen, die mit den Tänzern und die mit den Senioren. Die Themen in allen Stücken von Pina Bausch, also die Suche nach Liebe und Zärtlichkeit, die Sehnsucht, Wünsche und Träume, das alles haben Jugendliche genauso, nur in einer anderen Form und in einem anderen Entwicklungsstadium."
Rainer Hoffmann: "Für uns war das ein Experiment und parallel dazu für die Jugendlichen auch. Als ich das erste Mal mit Anne da war, um mir die Proben anzuschauen, noch ohne Kamera, war ich völlig überwältigt von der Konzentration und Power, die diese Jugendlichen an den Tag gelegt haben."
Die Jugendlichen erzählen im Film von ihren Erfahrungen mit diesem Projekt. Was waren denn für Sie selbst die prägenden Erfahrungen?
Rainer Hoffmann: "Das Überwältigende an diesem Projekt war für mich das Vertrauen, das die Jugendlichen dabei entwickelten, wie weit sie mich mit der Kamera an sich heran gelassen haben und dazu gehören auch die beiden Tänzerinnen Jo-Anne Endicott und Bénédicte Billiet sowie Pina Bausch selbst. Aber dass die Jugendlichen uns über die ganze Strecke hinweg so akzeptiert und gar nicht mehr auf die Kamera geachtet haben, das war für mich das größte Erlebnis und das hat mir am meisten gebracht."
Anne Linsel: "Für mich war das sehr wichtig und berührend, dass Pina Bausch uns diese Jugendlichen anvertraut hat. Das Vertrauen, das die Jugendlichen dem Kameramann entgegenbrachten, habe ich ebenfalls bekommen. Ich führte stundenlange Interviews mit ihnen, war bei ihnen zuhause, wo sie sehr viel von sich erzählten. Im Film hat Bénédicte einmal gesagt, dass die Jugendlichen alles einfach so machen, hat sie manchmal zu Tränen gerührt."
Sie sagen jetzt, das sei alles ganz einfach gewesen, aber der Film zeigt doch auch, dass die Jugendlichen zu Beginn große Probleme hatten, ihre Schamgefühle und Unsicherheiten zu überwinden. Musste die Kamera da nicht weitere Unsicherheiten hervorrufen oder haben Sie mit Teleobjektiv gearbeitet?
Rainer Hoffmann: "Nein, den Film mit Teleobjektiv zu drehen, wäre unmöglich gewesen. Es war auch von vornherein klar, dass ich diesen Film nur drehen kann, wenn ich eine Nähe zu den Jugendlichen habe, wenn ich mich mit ihnen bewegen kann, beobachten und einfangen, was passiert. Fast alles wurde von mir mit einer Schulterkamera gedreht. Einer der Jugendlichen meinte auf eine Frage des Berlinale-Publikums hin, die Kamera habe genervt, aber der Rainer Hoffmann sei cool und okay und damit war alles gut. Vom Dokumentarfilm her weiß ich, dass man die beste Nähe und das beste Vertrauen bekommt, indem man das Gegenüber respektiert, aber auf der anderen Seite seine Arbeit, die man körperlich und geistig macht, auch genauso offen den Jugendlichen gegenüber präsentiert, so dass auf diese Weise Verständnis und Vertrauen entstehen können."
Anne Linsel: "Die Kamera, die so nahe kommen musste, ist die eine Seite. Daneben gab es die pädagogische Seite und einen Elternabend, bei dem ich alles erläutert habe und den Eltern zusicherte, dass Pina Bausch alles kontrolliert, der ich verpflichtet bin, dass alles gut läuft. Sie durften also sicher sein, dass hinterher keine peinlichen Dinge im Film sind. Beispielsweise habe ich Joy nach meinen Interviews gefragt, ob ihre Aussagen im Film erscheinen dürfen und sie hat das bejaht. Die Jugendlichen wussten, dass sie sich auf uns verlassen konnten."
Rainer Hoffmann: "Bei Bénédicte und Jo-Anne war das nicht anders. Sie kannten zuvor nur Anne Linsel, mich überhaupt nicht. Ich habe ihnen dann eine DVD gegeben, damit sie sehen, wie ich arbeite. Bénédicte meinte dann später, hätte sie nicht vorher gesehen, wie ich arbeite, wäre alles viel schwieriger gewesen."
Im Presseheft ist zu lesen, die Jugendlichen hätten über ein Jahr lang für das Stück geprobt, aber die Dreharbeiten fanden von April bis November statt. Sie haben also erst spät mit dem Drehen angefangen, oder?
Anne Linsel: "Das hatte zunächst organisatorische Gründe, denn das Filmprojekt musste erst mal bei Arte eingereicht und genehmigt werden. Darüber hinaus gab es zu Beginn des Tanzprojekts ein sehr langwieriges Casting und über 150 Leute, von denen etliche wieder ausgesiebt werden mussten, beispielsweise auch weil sie kurz vor dem Abitur standen. Der Beginn war also nicht so spannend wie die Proben selbst. Letztere begannen Mitte Februar und Ende März waren wir schon mit der Kamera dabei. Wir haben angefangen, als die Truppe mit der ersten und zweiten Besetzung feststand."
Rainer Hoffmann: "Ohne Kamera waren wir sogar schon Anfang März dabei. Einen wichtigen Entwicklungsschritt haben wir jedenfalls nicht versäumt. Als die Truppe in einen anderen Probenraum umzog, ging es erst richtig los und dort waren wir gleich zu Beginn mit dabei. Die Konzentration auf diesen Raum kam auch dem Film zugute."
Wie hat man überhaupt die Jugendlichen für das Projekt gefunden?
Anne Linsel: "Die haben sich nach einem Aufruf gemeldet. Darunter waren auch viele Jugendliche, die absolut nicht wussten, worum es geht. Selbst die, die später geblieben sind, haben sogar im Film erzählt, sie wussten eigentlich nicht, was wirklich auf sie zukommen würde. Einige dachten auch, es gehe um HipHop. Die Vorstellung, jeden Samstag proben zu müssen, war für die Jugendlichen zudem ziemlich happig. Da sprangen dann etliche wieder ab."
Bei 40 Personen gibt es sicher mehr interessante biografische Hintergründe als der Film zeigt. Warum wurden nur drei Biografien ausgewählt, eine mit dem verstorbenen Vater und zwei mit Bezug auf das ehemalige Jugoslawien und die Balkankriege?
Anne Linsel: "Natürlich sollte klar werden, dass am Projekt auch Jugendliche mit Migrationshintergrund teilnahmen. Wir hatten weitaus mehr Material, aber dann haben wir natürlich die Geschichten genommen, die emotional besonders berührend waren. Ich glaube, das Oberthema dieser drei Geschichten ist: Jeder hat sein Päckchen zu tragen. Es gibt keine heile Welt, auch nicht für diese Jugendlichen. Und den schwarzen Jugendlichen aus Kamerun haben wir auch deshalb nicht genommen, weil er durch die ständige Gegenwart seiner Mutter beim Interview nicht so frei geredet hat wie die anderen."
Rainer Hoffmann: "Darüber hinaus gab es die Zusammenhänge mit dem Stück selbst. Es war klar, dass diejenigen mit ihrer Biografie besonders berücksichtigt werden, die später auch eine tragende Rolle im Stück erhalten würden."
Anne Linsel: "Die Geschichte mit dem ermordeten Großvater im Balkankrieg, die das inzwischen 17-jährige Mädchen als Sechsjährige erlebte, war auch deshalb so wichtig, weil sie damals ihren Vater zum ersten und einzigen Mal weinen gesehen hat. Das Weinen und das Zeigen von Gefühlen wiederum sind das Thema von Pina Bausch, genauso wie die Auseinandersetzung mit dem Tod."
Hat sich in den Jahrzehnten seit der Uraufführung des Stücks auch etwas in der Umsetzung der Themen geändert?
Anne Linsel: "Also für mich sind das zeitlose Themen. Pina Bausch hat das Stück auch nicht neu gemacht, sondern die Jugendlichen mussten es so lernen wie es damals war, mit den gleichen Formen und Worten. Was die Jugendlichen jetzt neu einbringen, im Unterschied zu den Senioren mit dem gleichen Stück, die damit ein gelebtes Leben und ihre Lebenserfahrung einbringen, sind ihre Spontaneität und ihre Persönlichkeiten. Liebe und Tod sind die großen Themen seit der Antike und das wird auch so bleiben. Pina Bausch wollte mit ihnen kein neues Stück einstudieren, sondern dass sie ihr eigenes Stück weitertragen und dafür hat sie ihnen auch gedankt."
Mich hat überrascht, dass Schüler aus Wuppertal im Film äußerten, sie hätten zuvor noch nie etwas von Pina Bausch gehört. Wie erklären Sie sich das?
Anne Linsel: "Zuerst dachte ich auch, das kann doch gar nicht sein. Aber eigentlich ist es klar, denn diese Jugendlichen lesen noch keine Zeitung und kommen oft aus Elternhäusern, in denen die Eltern noch nie im Theater waren. Viele von ihnen waren bei der Uraufführung des Stücks tatsächlich zum ersten Mal im Theater. Unabhängig davon ist das einfach so. Selbst in München habe ich Erwachsene kennengelernt, die zwar regelmäßig ins Theater gehen, aber noch nie etwas von Pina Bausch gehört haben."
Im Stück wie im Film geht es auch um den Erwerb von sozialer Kompetenz, also um etwas, das Jugendliche heute in der Schule nicht automatisch lernen. Wäre es daher nicht sinnvoll, wenn es solche Projekte häufiger gäbe?
Rainer Hoffmann: "Was ich von meinem Sohn oder auch von Lehrern erfahre, wie es in der Schule manchmal zugeht, finde ich es erstaunlich, wie diese Jugendlichen zusammengefunden haben und wie sie über die Arbeit zusammengekommen sind. Da muss es nicht Tanz sein, es kann auch Musik sein. Wichtig ist, Jugendlichen die Möglichkeit zu geben und Interesse bei ihnen zu wecken, sich auf so eine Art auszutauschen und von der eindimensionalen Art des Lernens wegzukommen."
Anne Linsel: "Wünschenswert wäre, wenn wirklich jeder Jugendliche, der die Grund-, Haupt- oder eine andere Schule durchläuft, so eine Erfahrung machen könnte. Man weiß ja inzwischen, dass Musikspielen oder ein Orchester ebenfalls dem Erwerb von sozialer Kompetenz dienen. Dennoch werden an den Schulen Musik- und Kunstunterricht weiter abgebaut. Das ist wirklich eine Katastrophe. Genau deswegen ist der Film auch für Erwachsene und Lehrer, für die Kultusminister und dergleichen wichtig."
Das Gespräch führte Holger Twele auf der Berlinale
Inhalt der Print-Ausgabe 122-2/2010
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