Produktion: Iraq All-Rafidain & Human Film; Irak / Großbritannien / Frankreich / Niederlande / Palästinensische Gebiete / Vereinigte Emirate / Ägypten 2009 – Regie: Mohamed Al-Daradji – Drehbuch: Jennifer Norridge, Mohamed Al-Daradji, Mithal Ghazi – Kamera: Mohamed Al-Daradji, Duraid Al-Munajim – Schnitt: Pascale Chavance, Mohamed Jabarah – Musik: Kad Achouri – Darsteller: Yassir Taleeb (Ahmed), Shezad Hussen (Um-Ibrahim), Bashier Al-Majid (Musa) u. a. – Länge: 90 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Roissy Films, Paris, e-mail: contact@roissyfilms.com – Altersempfehlung: ab 12 J.
Eine hügelige Steinwüste so weit das Auge reicht. Die einzigen Lebewesen sind eine schwarz gekleidete ältere Frau am Rande einer staubigen Straße und ein Junge, der sich vergeblich bemüht, eines der selten vorbeifahrenden Fahrzeuge anzuhalten. Stattdessen setzen sie unbeirrbar und unter Gehupe ihren Weg fort. Ahmed, der zwölfjährige Kurde, macht dafür seine Großmutter verantwortlich. Am liebsten würde er daher wieder umkehren, doch woher die beiden gekommen sind, sieht und erfährt man nicht. Irgendwann hält dann doch eher unwillig ein Fahrer an und nimmt den Jungen und die alte Frau mit in die Stadt, gegen Geld allerdings, welches die Großmutter ihm wortlos und gegen den Willen ihres Enkels hinhält.
Mit dieser langen Einstellung beginnt das irakische Roadmovie, das im Jahr 2003 spielt, drei Wochen nach dem Sturz des Saddam-Regimes. Die beiden Reisenden haben sich nur mit dem Nötigsten in ihrem Handgepäck auf den Weg gemacht, um Ahmeds Vater zu finden, der zwölf Jahre zuvor von Saddam Husseins Republikanischen Garden gefangen genommen wurde. Der Junge kennt also seinen Vater nicht und seitdem hat es auch kein Lebenszeichen mehr von ihm gegeben. Obwohl die Spuren von Krieg und Zerstörung allgegenwärtig sind, geht es offenbar vielen Menschen wie ihnen ähnlich, die sich auf die Suche nach Angehörigen oder nach einer neuen Perspektive gemacht haben. Die schwer bewaffneten US-Soldaten, die ihnen bald begegnen, wirken in dieser lebensfeindlichen Umgebung wie Fremdkörper, wie Wesen von einem anderen Stern. Auf ihrer Reise treffen die beiden Suchenden, die sich persönlich immer weiter annähern, einige Menschen, die bereit sind, ihnen zu helfen, auch wenn nicht alle des Kurdischen mächtig sind, das die Großmutter ausnahmslos spricht. Andere wiederum, wie ein ehemaliger Saddam-Soldat, der Ahmed in sein Herz schließt, versuchen, mit ihrer Schuld umzugehen. Die Suche nach dem Vater gestaltet sich sehr schwierig und auch in den Gefängnissen der ehemaligen Machthaber werden sie nicht fündig. Je weiter sie in den Süden Babylons reisen, desto häufiger kommen sie zu einem der unzähligen Massengräber, in denen das Saddam-Regime seine Gegner nach deren Ermordung verscharrte. In ihrer Verzweiflung gräbt die Großmutter am Ende mit bloßen Händen im Sand nach ihrem Sohn und findet nichts als Totenschädel von meist auch nicht mehr identifizierbaren Opfern. Sie wird ihren Sohn nie wiedersehen. Ahmed hingegen ist am Ende der Reise ein Stück erwachsener und reifer geworden. Seine Unschuld und seine Kindheit sind damit auch Vergangenheit. Während er sich zu Beginn der Reise nichts sehnlicher wünschte, als selbst einmal Soldat zu werden, nimmt er schließlich das Erbe seines Vaters an, dessen Flöte er als einziges Erinnerungsstück die ganze Reise mit sich führt.
Der 1978 in Bagdad geborene Regisseur Mohamed Al-Daradji, der in den Niederlanden und in Großbritannien Film studierte, realisierte diesen emotional tief bewegenden Film mit wenig Geld und dennoch als internationale Koproduktion mit zahlreichen Ländern, die in dieser Zusammenstellung bisher kaum jemals zu lesen waren. An Originalschauplätzen im Irak gedreht und mit Laiendarstellern besetzt, führte Al-Daradji auch teilweise die Kamera und war sein eigener Produzent. In der Rolle der Großmutter ist die Kurdin Shezad Hussen zu sehen, die einzige Zeugin übrigens, die im Prozess gegen den gestürzten Diktator aussagte. Ohne viele Worte, mit starken sinnfälligen Bildern, ruhigem Erzählfluss und einer einfachen Geschichte gelingt es dem Film, die Saddam Hussein angelasteten Kriegsverbrechen auch historisch wenig erfahrenen (jüngeren) Zuschauern ohne aufgesetzte Schockwirkung zu vermitteln und zu zeigen, welche Spuren sie in der Bevölkerung hinterlassen haben. Dies gilt selbst für die Szenen bei den Massengräbern, wobei auch Ahmed keine Berührungsängste zeigt, sondern vor allem seine Großmutter zu trösten versucht. Indem der Film sich ganz auf seine beiden Hauptdarsteller konzentriert und trotz aller erlebten Hoffnungslosigkeit nicht hoffnungslos endet, ist er auch für ältere Kinder ab etwa zwölf Jahren geeignet.
Holger Twele
Inhalt der Print-Ausgabe 122-2/2010
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