Produktion: Duo Films / Goi-Goi Productions / Arte; Tschad / Frankreich 2002 – Regie und Buch: Mahamat-Saleh Haroun – Kamera: Abraham Haile Biru – Schnitt: Sarah Taouss Matton – Musik: Diego Mustapha N'Garade – Darsteller: Ahidjo Mahamat Moussa (Tahir), Hamza Moctar Aguid (Amine), Zara Haroun (Mutter), Mounira Khalil (Die Stumme) – Länge: 85 Min. – Farbe – Verleih: Kairos (35mm) – Altersempfehlung: ab 10 J.
Irgendwo in der Wüste: Ein Mann stapft mit nur einem Koffer durch den Sand, dreht sich noch einmal zur Kamera um, so als wolle er Abschied nehmen/Schnitt/Zwei Jungen in der Stadt wachen eines Morgens auf und stellen fest, dass ihr Vater verschwunden ist. Auch ihre Mutter kann ihnen nicht helfen. Also machen sie sich ganz allein auf die Suche nach dem Verschwundenen, wandern mehr oder weniger ziellos durch die große Stadt, lassen sich zusehends treiben. Als der jüngere Amine in einem Film den Vater entdeckt zu haben glaubt, brechen sie später ins Kino ein, um den Vater aus den Filmrollen zu "befreien" – dieser sehr animistische Umgang mit dem Material und der Kunstform Film durchzieht das afrikanische Kino von Anbeginn. Sie werden verhaftet und kommen mit einer Verwarnung davon.
Jetzt greift ihre Mutter ein. Denn schon mehrfach hatte sie die Söhne ermahnt, sich trotz (oder gerade wegen) des Verlustes ihres Vaters am Riemen zu reißen und nicht einfach in der Stadt rumzugammeln, sondern wieder zur Schule zu gehen. Ihr letzter Ausweg: Sie schickt die Jungen aufs Land in eine gestrenge Koranschule. Hier werden sie eher wie Gefangene denn wie Internatsschüler gehalten. Klar, dass sie bald versuchen, dieser Hölle auf Erden zu entkommen. Zudem hat vor allem Amine Probleme mit seinen Mitschülern. Einzig eine der Dienerinnen, eine Stumme, hält zu den beiden. Eines Tages hat jemand Amines Asthma-Medikament gestohlen und beim nächsten Anfall stirbt der Kleine. Das ist für seinen Bruder Tahir das Signal, endgültig zu verschwinden. Mit einem Moped macht er sich auf den langen Weg in die Stadt, wobei ihn die Stumme begleitet. Dort angekommen, finden sie seine Mutter in der Psychiatrie. Sie holen sie raus und beginnen gemeinsam ein neues Leben zu Dritt.
Harouns Film widerspricht auf vielfältige Weise dem Bild, das sich der Westen allzu gerne von Afrika und dem afrikanischen Kino macht. Denn bei uns schätzt man vor allem die westafrikanischen Dorfgeschichten und übersieht dabei zwei Dinge: Erstens leben auch in Afrika die meisten Menschen schon längst in den großen Städten und zweitens ist das Dorf alles andere als der Hort des Idylls, was viele dieser Filme ja auch thematisieren; erwähnt sei hier beispielsweise "Tilai / Das Gesetz" von Idrissa Ouédraogo. Harouns Film hingegen zeigt die Stadt als Ort möglicher Freiheit und Ungebundenheit, während das Dorf für ihn der Hort von Unterdrückung und Feudalstrukturen ist, die es zu überwinden gilt. Ähnlich entschieden auch seine Haltung zum islamischen Fundamentalismus; eine solche heftige Schilderung der Zustände in den Koranschulen findet sich sonst nur in Filmen wie etwa "Kandahar" von Mohsen Makhmalbaf.
Auch formal hat Harouns Film so manche Überraschung zu bieten. Dabei liegt seine Qualität weniger in den einzelnen Bildern als vielmehr in deren Montage. Wie er den Rhythmus seiner Geschichte strukturiert, zum Ende hin immer schneller wird, ja am Schluss nur noch lose durch Schwarzblenden getrennte Schnipsel von der Freiheit in der großen Stadt zeigt – ohne die Zustände dort zu idealisieren – das nimmt einen unwillkürlich mit auf diese Reise zweier Jungen in die Hölle und zurück. Afrikanisches Kino, das ganz nebenbei tief eintaucht in den städtischen Alltag des Tschad und zugleich zwei große Themen des Kontinents verhandelt: Die Abwesenheit der Väter und den Gegensatz zwischen Stadt und Land.
Lutz Gräfe
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