Produktion: Cuban Film Institute / Cuban TV Institute; Kuba 2011 – Regie: Ian Padrón – Buch: Felipe Espinet – Kamera: Alejandro Perez – Schnitt: José Lemuel – Musik: Rene Banos, Nacional Electronica – Darsteller: Ernesto Escalona (Mayito), Andy Fornaris (Carlos), Claudia Alvarino (Lehrerin), Luis Alberto Garcia (Vater), Blanca Rosa Blanco (Mutter) – Länge: 90 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Cuban Film Institute, La Habana, Cuba – Altersempfehlung: ab 8 J.
Es ist der 1. Mai, Internationaler Tag der Arbeit. Auf der Karibikinsel Kuba ein Festtag mit organisierten Aufmärschen und Veranstaltungen, wo Hunderttausende zum Platz der Revolution in Havanna streben. Auf dem Schulhof sind die Kinder mit ihren roten Pionierhalstüchern angetreten, die Jungs in roten Hosen und weißen Hemden, die Mädchen in roten Röcken und weißen Hemdblusen, der obligatorischen Schulkleidung auf Kuba. Sie hören der Ansprache des Direktors zu, der den Sozialismus preist und eine Gesellschaft, in der alle die gleichen Chancen haben, wo es keine Klassenunterschiede gibt, kein Arm und Reich. Der gut erzogene Mayito aus dem Villenviertel Miramar, Sohn eines berühmten Musikers, strahlt festtäglich. Carlos aus der Altstadt verzieht das Gesicht, "bla bla bla". Seine Lebenswirklichkeit sieht anders aus.
Und da hinein gerät unversehens Mayito, weil er den falschen Bus erwischt hat. Als er seinen Irrtum bemerkt, lässt ihn der Fahrer an der nächsten Ecke raus. Nun steht er in einer Gegend, die weit entfernt von seiner liegt, dort, wo die kleinen Leute wohnen. Da begegnet ihm Carlos, verfolgt von einer Jungengang. Der reißt Mayito mit, hinein ins pralle bunte Leben, das auch ein täglicher Existenzkampf ist. Dann gehen sie erst mal nach Hause, wo Carlos mit seiner Großmutter lebt, eine bescheidene Hütte, immerhin mit Wasser und Strom. Mayito will seine Eltern anrufen, damit sie Bescheid wissen. Kein Problem für Carlos. Er erledigt das im Telefonladen und versichert dem besorgten Mayito, dass Papa und Mama, momentan im Aufnahmestudio, ihn gegen Abend abholen werden. Gut, das Mayito gegen das Verbot seiner Eltern die neue Playstation in den Rucksack gesteckt hat. Doch bevor das Spiel beginnen kann, gibt es einen Kurzschluss – auch das für Carlos kein Problem, kennt er doch die richtigen Leute im Viertel, die in jeder Lebenslage eine Lösung wissen, allesamt Talente der Improvisation. Nur fehlt ein Teil und das kostet! Woher so schnell Geld nehmen, wenn man keins dabei hat? Man verdient es sich, was denn sonst. Mayito kommt ins Schwitzen, beim Flaschensammeln, Reinigen, Laubfegen, Reifen aufpumpen. Aber es macht auch Spaß, noch nie hat er mit eigener Hände Arbeit Geld verdient, ein Erfolgserlebnis, das noch gekrönt wird von einem viel versprechenden Blick eines hübschen Mädchens. Große Sorgen macht sich unterdes die junge Aushilfslehrerin, weil sie den wohlbehüteten Mayito im Gedränge aus den Augen verloren hat. Inzwischen ist die Großmutter zurück, die forschend den fremden Gast betrachtet, der so gar nicht hierher passt. Die Jungen improvisieren, faseln etwas von Mathenachhilfe. Die Großmutter hat einen Drachen mitgebracht – von Carlos’ Vater liebevoll gebastelt. Jetzt gesteht Carlos seinem neuen Freund, dass der Vater nicht auf Montage im fernen Oriente ist, sondern im Knast, weil er zu schnell mit dem Messer war. Bald darauf geraten die beiden Jungen in den engen Gassen in eine ähnlich gefährliche Situation, doch Mayito kann Schlimmes verhindern. Und dass Mayito dank Carlos seine Schüchternheit überwindet und so zum ersten Kuss gelangt, ist der krönende Abschluss dieses ereignisreichen Tages. An dessen Ende haben Mayito und Carlos Wichtiges voneinander gelernt. Und Mayito hat einen echten Freund gefunden, den ersten überhaupt …
"Havanna Station" ist das Spielfilmdebüt des 1976 in Havanna geborenen Regisseurs Ian Padrón, ein mit Leidenschaft, Temperament und Liebe zu seinem Land gedrehter Kinderfilm – eine Seltenheit auf Kuba, wo Kinder hauptsächlich via Fernsehen mit mehr oder weniger guten Zeichentrickfilmen unterhalten werden. Padrón scheut sich nicht, den Finger in die Wunde zu legen und aufzuzeigen, dass es auch in Kuba zunehmend Arme und Reiche gibt. Aber er lässt beiden Schichten ihre Würde, denunziert weder den von seinen Eltern verwöhnten und mit Geschenken überschütteten Mayito, noch Carlos, den Sohn eines Kriminellen, der sich mit seiner Gang Straßenkämpfe liefert. Beide Jungen haben ihre Stärken und vor allem das Herz auf dem rechten Fleck. Die Kinderdarsteller sind eine ideale Wahl, sie verkörpern glaubwürdig, was sie spielen.
In diesem Film liegt alle Hoffnung auf den Kindern, in deren Bildung und Ausbildung der Staat investiert, weil sie die Zukunft des ganzen Landes sind. Dass eine neue, noch so teure Playstation kein Vergleich ist mit dem wirklichen Leben, dem größten Abenteuer überhaupt, wird am Ende des spannenden wie lehrreichen Films allen Beteiligten klar – und den Zuschauern, wo auch immer sie leben. "Havanna Station" ist ein deutscher Verleih zu wünschen.
Gudrun Lukasz-Aden
Inhalt der Print-Ausgabe 131-3/2012
Filmbesprechungen
17 MÄDCHEN ALS HÄTTE ICH DICH GEHÖRT AM ENDE EINES VIEL ZU KURZEN TAGES ATTENBERG DAS GEMÄLDE HAVANNA STATION INKLUSION – GEMEINSAM ANDERS EIN JAHR NACH MORGEN KNERTEN DAS MEER AM MORGEN MES – LAUF! MOONRISE KINGDOM NONO POMMES ESSEN PUNCH SIMON SONS OF NORWAY EIN TICK ANDERS TOM UND HACKE WEST IS WEST
Interviews
Imaizumi, Kaori - Mut brauchen wir – für uns selbst und für unser Land Lechner, Norbert - Der Dialekt im Film ist ein Alleinstellungsmerkmal, das ist etwas wert Steyer, Christian - Es gibt nichts Berührenderes als Einfachheit Tolentino, Rommel - Du musst zu dem stehen, was du bist, und was draus machen – so wie Nono von Traben, Tina - Schade, dass nicht mehr Originaldrehbücher im Kinder- und Jugendbereich verfilmt werden
Hintergrundartikel
Unsere Erinnerung an Helmut Dziuba .,. Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch
Kinder-Film-Kritiken