Produktion: Schmidtz Katze Filmkollektiv / Göta Film / Asta Film / Filmkameratene / Film i Väst; Deutschland / Schweden 2011 – Regie: Lisa Ohlin – Buch: Marnie Blok, nach dem gleichnamigen Roman von Marianne Fredriksson – Kamera: Dan Laustsen – Schnitt: Kasper Leick, Michal Leszcylowski – Musik: Annette Focks – Darsteller: Bill Skarsgård (Simon Larsson), Jonatan S. Wächter (Simon als Kind), Helen Sjöholm (Karin Larsson), Stefan Gödicke (Erik Larsson), Jan Josef Liefers (Ruben Lentov), Karl Linnertorp (Isak Lentov), Karl Martin Eriksson (Isak als Kind), Lena Nyhlén (Olga Lentow), Katharina Schüttler (Iza), Erica Löfgren (Klara), Josefin Neldén (Mona), Cecilia Nilsson (Inga), Hermann Beyer (Ernst Habermann) – Länge: 121 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Farbfilm Verleih – Altersempfehlung: ab 12 J.
Simon Larsson kehrt als junger Mann an den Ort seiner Kindheit zurück, einem kleinen Gutshof bei Göteborg. Nachdenklich lauscht er dem Wind, der sich in den Ästen der großen Eiche fängt, lässt seinen Blick über die Wiesen und Wälder schweifen, seinen Gedanken Raum und Zeit gebend.
Schnitt. Klein-Simon sitzt in der Baumkrone der großen Eiche. Ein Träumer ist er, ein leidenschaftlicher Leser, der phantastische Abenteuer in seinem Kopf erlebt. Sehr zum Leidwesen seines Vaters Erik, einem einfachen Schreiner, der nichts übrig hat für derartige Zeitverschwendung. Im Gegensatz zu Mutter Karin, die großes Verständnis für die intellektuellen Vorlieben ihres zart besaiteten Sohnes zeigt, ihn liebt und verwöhnt. Sie unterstützt auch seinen brennenden Wunsch, in der Stadt eine höhere Schule zu besuchen. Der Vater knüpft an seine Zusage die Bedingung, dass Simon seinen Baum verlässt und Freunde findet. Der verspricht es.
Eines Tages belauscht Simon ein Gespräch zwischen der einfältigen Inga, Eriks Cousine, und seiner Mutter. Er versteht nicht, was es mit dem Brief auf sich hat, den Inga in den Händen hält, sieht nur, dass die Mutter tief beunruhigt ist. Es sind sowieso beunruhigende Zeiten – Anfang des Zweiten Weltkriegs, wo auch in Schweden die Faschisten immer mehr das Sagen haben, wo jüdische Mitbürger sich nicht mehr sicher fühlen können. Bereits am ersten Schultag sind die neuen Zeiten zu spüren. Isak, Sohn des reichen jüdischen Buchhändlers Ruben Lentov, von Berlin nach Göteborg geflohen, wird ebenso ignoriert wie Simon, der arme Junge vom Land. Die beiden Außenseiter befreunden sich und sind fortan unzertrennlich. Für Simon eröffnet sich im großbürgerlichen Haus der Lentovs eine ihm unbekannte Welt, die Welt der Literatur und der Musik. Ruben Lentov bemüht sich um eine respektvolle Beziehung mit den Larssons, ungeachtet der sozialen Unterschiede, und lässt bei seinen Besuchen kein Gefühl der Überlegenheit aufkommen. Erik hingegen bleibt innerlich auf Distanz zu dem reichen Deutschen, der noch nie mit seiner Hände Arbeit Geld verdient hat. So sieht das der Handwerker.
Als Erik in den Krieg einberufen und Isaks Mutter in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wird, bleibt Isak bei den Larssons. Zur Schule geht er nicht mehr, nachdem ein schrecklicher Vorfall an ein Trauma gerührt hat. Ruben kommt immer häufiger vorbei, um seinen apathischen Jungen zu besuchen und Simon mitzunehmen in die faszinierende Welt der Kultur, in der sich der Junge zunehmend sicher und geborgen fühlt.
Nach Ende des Krieges kehrt Erik unversehrt heim. Und versteht die Welt nicht mehr. Da sitzt Lentovs Sohn Isak teilnahmslos in der Stube rum, während sein Sohn immer häufiger bei Lentov ist und Flausen im Kopf hat wie zum Beispiel Klavier spielen zu wollen. Dann passiert etwas Unvorhergesehenes: Isak erwacht aus seiner Lethargie, zeigt Interesse an Eriks Handwerk, hilft begeistert in der Werkstatt mit. Jetzt haben beide Väter die Söhne, die sie sich wünschen. Nur sind es nicht die eigenen. Simon fühlt sich zu Hause zunehmend fremd und deplatziert. Es kommt immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn, in deren Verlauf das bis dahin bewahrte Familiengeheimnis gelüftet wird: Simon ist nicht Sohn seiner Eltern, sondern ein Kind der leicht debilen Inga und eines jüdischen Pianisten, der als verschollen gilt. Wut und Zorn überschwemmen Simon, dann aber erfüllt ihn Erleichterung. Er verlässt Karin und Erik, die nicht seine Eltern sind. Alles fügt sich, alles passt zusammen und ergibt einen Sinn …
Lisa Ohlins Film liegt der Roman "Simon" der schwedischen Bestseller-Autorin Marianne Fredriksson zu Grunde, der in 25 Sprachen übersetzt und weltweit über vier Millionen Mal verkauft wurde – ein kraftvolles, emotionales Familienepos, das Lisa Ohlin auch als eine Coming-of-Age-Geschichte aus der Sicht des Jungen erzählt, vor dem Hintergrund des Hitlerfaschismus und der Nachkriegszeit in Schweden, zwischen 1939 und 1952. Es geht ums Verdrängen und Verschweigen. Kinder stellen keine Fragen, weil sie spüren, dass sie keine Antworten erhalten. Eine Geschichte, in der das Private mit dem Politischen verflochten ist. Wie auch in Lisa Ohlins eigenem Leben, deren Familie 1939 von Berlin nach New York emigrierte, wo die Mutter starb, als Lisa fünf Jahre alt war und fortan tot geschwiegen wurde. So sind jene Szenen, in denen der kindliche Simon das Handeln der Erwachsenen beobachtet, aber nicht deuten kann, wo er nur ahnt, was sich beispielsweise zwischen seinen Eltern – nicht – abspielt und wo Rubens Sehnsüchte liegen, dicht und stimmig inszeniert. Als Herangewachsener bleiben Simons Gefühle ambivalent, ebenso die erste und die zweite Liebe seines jungen Lebens, das zunehmend vom väterlichen Freund Ruben Lentov bestimmt wird.
Lisa Ohlin: "Als ich gefragt wurde, ob ich für den Film die Regie übernehme, hatte die holländische Drehbuchautorin Marnie Blok bereits eine brillante Adaption geschaffen. Sie hatte acht Versionen der Geschichte geschrieben! Die waren aber immer noch zu lang und mussten in einigen Punkten überarbeitet werden. Gemeinsam haben wir uns durch zehn weitere Versionen gearbeitet, bis schließlich das Drehbuch herauskam, das dann verfilmt wurde."
Diesen komplizierten Entstehungsprozess sieht man dem zwei Stunden langen Film an der unterschiedlichen Intensität der Erzählweise irgendwie an. Verdichtung und Reduktion, das packt den Zuschauer oder es lässt ihn stellenweise unberührt. Trotzdem: "Simon" beeindruckt durch seine Mitgefühle weckende Geschichte zweier unterschiedlicher Jungen, deren Schicksal miteinander verknüpft ist. Die kleinen und erwachsenen Darsteller sorgen für Glaubwürdigkeit, die in nordisches Licht getauchte großartige Natur und die eigens für den Film komponierte Musik, eine Mischung aus Klassik und Moderne, jüdischem und westlichen Klang, entlassen den Zuschauer mit dem Gefühl, einen guten Film gesehen zu haben.
Gudrun Lukasz-Aden
Inhalt der Print-Ausgabe 131-3/2012
Filmbesprechungen
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Interviews
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Unsere Erinnerung an Helmut Dziuba .,. Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch
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