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Ausgabe 131-3/2012

EIN JAHR NACH MORGEN

Produktion: Kordes & Kordes Film GmbH, WDR; Deutschland 2012 – Regie und Buch: Aelrun Goette – Kamera: Sonja Rom – Schnitt: Monika Schindler – Musik: Annette Focks – Darsteller: Rainer Bock (Jürgen Reich), Margarita Broich (Katharina Reich), Gloria Endres de Oliveira (Luca Reich), Jannis Niewöhner (Julius Hofer), Isolda Dychauk (Nadine Nagel) u. a. – Länge: 88 Min. – Farbe – FSK: noch offen – Kontakt: WDR oder www.kordesfilm.de/de/film/27/103 – Altersempfehlung: ab 12 J.

Mit dem Jagdgewehr ihres Vaters erschießt die 16-jährige Luca bei einem Amoklauf zwei Menschen, darunter eine Lehrerin ihrer Schule. Die Tat selbst wird im Film nicht gezeigt, die Motivationen der Täterin bleiben letztlich unerklärbar, ganz wie im richtigen Leben – von Colombine bis Erfurt. Nicht einmal die Täterin steht in diesem Film im Mittelpunkt, zumal sie eher als Opfer denn als Mörderin dargestellt wird und ihr Schicksal wie das der anderen von der Tat unmittelbar Betroffenen vor allem Mitleid und Mitgefühl hervorruft. Ein ganzes Jahr ist seit dem Amoklauf vergangen. Nun findet der Prozess gegen das in Untersuchungshaft sitzende Mädchen statt, das seine Eltern nicht mehr sehen möchte und sich ziemlich allein fühlt. Zugleich muss ihr Vater eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung befürchten. Schließlich war es seine Waffe, mit der die Morde begangen wurden. Für viele Einwohner der Kleinstadt ist die Situation dagegen eindeutig. Die Eltern haben sich mitschuldig gemacht und werden deshalb ausgegrenzt, insbesondere vom völlig aus der Bahn geworfenen Ehemann der getöteten Lehrerin sowie von einigen Mitschülern der Täterin. Einer von ihnen war mit Luca eng befreundet und wohl der Einzige, dem sie sich mit ihren Problemen und Gefühlen anvertraut hatte. Nun fühlt Julius sich mitschuldig, denn vielleicht hätte er Lucas Tat sogar im letzten Moment noch verhindern können, wenn er sie noch ernster genommen hätte. Unfähig, mit jemandem über seine Skrupel zu reden, gerät schließlich auch Julius ins Abseits und wird insbesondere von einem seiner Klassenkameraden gemobbt, der von sich selbst rundum überzeugt ist und kein Gespür für die Sorgen anderer hat.

Konsequent und mit unglaublicher Intensität erforscht Aelrun Goette in ihrem realitätsnahen Psychothriller die menschlichen Abgründe und die seelischen Verletzungen im Umfeld eines Amoklaufs. Ohne jemals konkret die Frage nach Schuld oder Schuldigen zu stellen, inszeniert sie präzise und unspektakulär die Folgen eines solchen Amoklaufs für die Überlebenden und die Personen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld der Täterin und der Opfer. Indem sie klare Schuldzuschreibungen vermeidet und die Hintergründe der Tat nur ansatzweise und Stück für Stück vermittelt werden, entsteht eine enorme Spannung. Diese dient allerdings nicht dazu, das Publikum abzulenken, sondern auf äußerst subtile Weise zu zwingen, sich immer wieder neu zu fragen, warum es zu dieser Tat gekommen sein könnte, ob sie vielleicht doch vermeidbar gewesen wäre und wer womöglich daran eine Mitschuld trägt, ohne im streng juristischen Sinn "schuldig" zu sein.

Nach ihrem preisgekrönten Dokumentarfilm "Die Kinder sind tot" und ihrem Spielfilm "Unter dem Eis" ist sich Aelrun Goette ihrem bisherigen Hauptthema der gesellschaftlichen Mitverantwortung bei familiären Tragödien treu geblieben, wobei sie in der dramaturgischen Umsetzung noch eine deutliche Spur dichter, präziser und perfekter geworden ist. Ihr neuer Film, der auf dem Filmfest München 2012 seine Welturaufführung erlebte, ist in Koproduktion mit dem WDR entstanden, der einige Jahre zuvor auch schon den thematisch verwandten Film "Ihr könnt euch niemals sicher sein" (Regie: Nicole Weegmann, Filmkritik in KJK Nr. 117-1/2009) herausgebracht hat. Wie dieser eigentlich nur für das Fernsehen produzierte Film verdient es auch Goettes neues Werk, nicht nur im Fernsehen ausgestrahlt zu werden, sondern unbedingt auch eine Chance im Kino auf großer Leinwand und später in der nichtkommerziellen Filmarbeit zu erhalten.

Holger Twele

 

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Ausgabe 131-3/2012

 

Inhalt der Print-Ausgabe 131-3/2012|

Filmbesprechungen

17 MÄDCHEN| ALS HÄTTE ICH DICH GEHÖRT| AM ENDE EINES VIEL ZU KURZEN TAGES| ATTENBERG| DAS GEMÄLDE| HAVANNA STATION| INKLUSION – GEMEINSAM ANDERS| EIN JAHR NACH MORGEN| KNERTEN| DAS MEER AM MORGEN| MES – LAUF!| MOONRISE KINGDOM| NONO| POMMES ESSEN| PUNCH| SIMON| SONS OF NORWAY| EIN TICK ANDERS| TOM UND HACKE| WEST IS WEST|

Interviews

Imaizumi, Kaori - Mut brauchen wir – für uns selbst und für unser Land| Lechner, Norbert - Der Dialekt im Film ist ein Alleinstellungsmerkmal, das ist etwas wert| Steyer, Christian - Es gibt nichts Berührenderes als Einfachheit| Tolentino, Rommel - Du musst zu dem stehen, was du bist, und was draus machen – so wie Nono| von Traben, Tina - Schade, dass nicht mehr Originaldrehbücher im Kinder- und Jugendbereich verfilmt werden|

Hintergrundartikel

Unsere Erinnerung an Helmut Dziuba .,.| Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch|

Kinder-Film-Kritiken

MORGEN WIRD ALLES BESSER| TOM UND HACKE|


KJK-Ausgabe 131/2012

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