Produktion: Sel Film / Sifilm / SoundVision; Türkei 2011 – Regie: Shiar Abdi – Buch: Shiar Abdi, Selamo – Kamera: Ercan Özkan – Schnitt: Ulf Bremen, Johannes Schäfer – Musik: Frank Schreiber, Hemin Derya – Darsteller: Abdulla Ado (Cengo), Abudel Selam Kilgi 'Selamo' (Xelilo), Tolay Mosiki, Mural Elmas, Nurjiyan Kilgi, Files Mehmuod, Bünyamin Keyik, Ahmed Ulugoglu, Nail Elmas u. a. – Länge: 88 Min. – Farbe – kurdische Originalfassung mit deutschen Untertiteln – FSK: ab 12 – Verleih: Real Fiction – Altersempfehlung: ab 14 J.
Nuseybin 1980, eine kurdische Kleinstadt im Osten der Türkei. Der Ort wirkt so, als sei hier die Zeit stehengeblieben. Der zwölfjährige Cengo wächst in einer von Männern dominierten, hierarchisch strukturierten Familie auf. Seine Mutter starb, als er zwei Jahre alt war. Großgezogen hat ihn seine acht Jahre ältere Schwester, die er als seine Mutter betrachtet. Seine Schwester hat einen Freund, der aber nicht über das Geld verfügt, sie heiraten zu können. Fast alle kurdischen Familien in Nuseybin leben in ärmlichen Verhältnissen. Cengo muss seinen Teil zum Lebensunterhalt beitragen, indem er sich auf den schmutzigen Straßen als Kaugummi- und Zigaretten-Verkäufer betätigt. Eines Tages begegnet er Xelilo: Ein stummer, alter, traumatisierter Mann, der in einem verlassenen Laden lebt, in endlosen Runden durch die Straßen eilt und den Männern die Zigaretten aus dem Mund stiehlt. Die beiden freunden sich an. Cengo stört sich nicht an dem Schweigen des Alten, sondern nimmt ihn mit zu den anderen Kindern, die sich unter einer Eisenbahnbrücke zum Spielen treffen. Das unkonventionelle Verhalten Xelilos, der durch die intensive Ausdrucksfähigkeit seines Gesichtes mit anderen kommuniziert, führt immer wieder zu Problemen und Missverständnissen. Viele in dem Ort fühlen sich belästigt durch Xelios sinnlosen Lauf durch die immer gleichen Straßen. Der Alte ist wirr im Kopf. Seine Angehörigen sind ratlos. Aber Cengo steht zu ihm und kümmert sich um ihn.
Als das türkische Militär die Macht und die Kontrolle übernimmt, verändert sich das Leben im Ort. Die neuen Machthaber treten autoritär und gewaltbereit auf. Sie zwingen den Kurden ihren Lebensstil auf und zwingen sie, türkisch zu sprechen. In Cengos Familie gibt es junge Männer, die sich am Widerstand beteiligen und sich und andere in Gefahr bringen. Es wird über die Stadt eine Ausgangssperre verhängt, die auch Cengo zu riskanten Aktionen zwingt. Xelilo bekommt diese neue Situation nicht mit und hält sich nicht an die Ausgangssperre. Er wird von zwei Soldaten verfolgt und in seinem Unterschlupf erschossen. Jahre später wird sich Cengo den Widerstandskämpfern anschließen.
"Mes – Lauf!" ist ein Film über eine ungewöhnliche Freundschaft und über das Ende einer Kindheit. Seine zwischen Drama und Tragikomödie wechselnde Geschichte wird weniger durch Dialoge, sondern überwiegend über die Bilder erzählt. In seiner Bildkomposition und Erzählweise erinnert der Film sehr stark an die Dramaturgie und Ästhetik der Filme von Abbas Kiarostami. Auch ohne viele Worte gelingt es durch das starke Ausdrucksspiel der beiden Protagonisten, die Annäherung zwischen Jung und Alt überzeugend zu meistern. Cengo mit seiner Energie und seinem Engagement für seine Familie und Freunde ist die ideale Identifikationsfigur für Kinder, auch wenn diese nicht über die historischen Zusammenhänge und Entwicklungen informiert sind.
In einer emotional bewegenden Szene nimmt Cengo den Alten mit in eine Kinovorstellung. Es läuft ein Film von Yilmaz Güney. Cengo hat Xelilo zuvor erklärt, dass er vor den Männern auf der Wand, die um sich schießen, keine Angst haben soll, da sie nicht real sind. In die Kinovorstellung dringen dann plötzlich Soldaten ein, die mit Gewalt den Saal räumen und um sich schießen. Da es ihnen nicht schnell genug geht, schießen sie auch auf die Projektionswand und die Männer in dem Film schießen zurück.
"Mes – Lauf!" ist der erste in den kurdischen Gebieten der Türkei gedrehte Spielfilm, der komplett in kurdischer Sprache aufgenommen wurde. Er wurde zu mehreren internationalen Festivals eingeladen und mit Preisen und Anerkennungen bedacht.
Horst Schäfer
Inhalt der Print-Ausgabe 131-3/2012
Filmbesprechungen
17 MÄDCHEN ALS HÄTTE ICH DICH GEHÖRT AM ENDE EINES VIEL ZU KURZEN TAGES ATTENBERG DAS GEMÄLDE HAVANNA STATION INKLUSION – GEMEINSAM ANDERS EIN JAHR NACH MORGEN KNERTEN DAS MEER AM MORGEN MES – LAUF! MOONRISE KINGDOM NONO POMMES ESSEN PUNCH SIMON SONS OF NORWAY EIN TICK ANDERS TOM UND HACKE WEST IS WEST
Interviews
Imaizumi, Kaori - Mut brauchen wir – für uns selbst und für unser Land Lechner, Norbert - Der Dialekt im Film ist ein Alleinstellungsmerkmal, das ist etwas wert Steyer, Christian - Es gibt nichts Berührenderes als Einfachheit Tolentino, Rommel - Du musst zu dem stehen, was du bist, und was draus machen – so wie Nono von Traben, Tina - Schade, dass nicht mehr Originaldrehbücher im Kinder- und Jugendbereich verfilmt werden
Hintergrundartikel
Unsere Erinnerung an Helmut Dziuba .,. Freiräume zum Nachdenken und zum Widerspruch
Kinder-Film-Kritiken