Zum Inhalt springen

Ausgabe 118-2/2009

CAPTAIN ABU RAED

Produktion: Paper and Pen Films / GigaPix Studios; Jordanien / USA 2007 – Regie und Buch: Amin Matalqa – Kamera: Reinhart Peschke – Schnitt: Laith Al-Majali – Musik: Austin Wintory – Darsteller: Nadim Sawalha (Abu Raed), Rana Sultan (Nour), Hussein Al-Sous (Murad), Ghandi Saber (Abu Murad), Dina Ra'ad-Yaghnam (Um Murad) u. a. – Länge: 103 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: MfA+ FilmDistribution – Altersempfehlung: ab 12 J.

Der stattliche Abu Raed ist ein angesehener Mann seines Viertels in der Altstadt von Amman. Bei den Erwachsenen, weil er klug ist und viele Bücher besitzt, bei den Jungen und Mädchen, weil er jeden Morgen mit einem Auto der jordanischen Fluggesellschaft zur Arbeit abgeholt wird. Er kann also nur ein "Captain" sein, der in die große weite Welt fliegt. Unermüdlich bitten sie ihn, Geschichten zu erzählen. Und ebenso unermüdlich beteuert er, kein Pilot zu sein. Seine Bescheidenheit ist für die Kinder ein weiterer Beweis, dass er von großer Bedeutung sein muss. Als Abu Raed, der am Flughafen als Reinigungskraft arbeitet, eines Tages eine weggeworfene Captainmütze findet, nimmt er sie mit und lässt sich von den Jungen und Mädchen zum Geschichtenerzählen überreden – mit der Mütze auf dem Kopf. Die Kinder lauschen glücklich seinen fantastischen Erzählungen, erfahren durch ihn von anderen Ländern, die Abu Raed aus Büchern kennt. Nur der Junge Murad misstraut dem Captain, weil es einfach nicht möglich sein kann, dass jemand aus ihrem armen Viertel eine solche Position erreicht.

Abu Raed lernt am Flughafen die junge Pilotin Nour kennen. Zwischen ihnen entsteht eine Freundschaft ungeachtet der unterschiedlichen Schichten, denen sie angehören. Sie bringt Souvenirs von ihren Reisen um die Welt mit, die Abu Raeds Erzählungen ausschmücken und seine Glaubwürdigkeit bei den Kindern festigen. Nicht bei Murad, der ihn einen Lügner schimpft und eines Tages seinen Freunden den wahren Abu Raed zeigt, der auf den Knien den Boden des Flughafens wischt. Abu Raeds Geschichte ist damit nicht zu Ende. Er wird noch eine dramatische Rolle in Murads Leben spielen. – Mit Murads Silhouette als erwachsener junger Captain auf dem Flughafen von Amman beginnt dieser moderne Märchenfilm des Jordaniers Amin Matalqa, dem Sohn eines Piloten. Und so endet er auch. Murad – und auch der Zuschauer – blickt zurück auf seine Kindheit und auf Abu Raed, der beharrlich versucht, den Kindern seines Viertels zu vermitteln, dass auch sie eine Chance in ihrem Leben haben werden. Er nimmt den oft vergeblichen Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen auf, in der Frauen den Männern untertan zu sein haben, Kinder den Eltern, Söhne den Vätern. Zum Beispiel Tareq: Er muss Süßigkeiten auf der Straße verkaufen, um die Familienkasse aufzubessern. Abu Raed kauft ihm alles ab, damit der Junge zur Schule gehen kann. Mit dem Ergebnis, dass Tareqs Vater die Menge verdoppelt. Oder Murad, der von seinem Vater mit einem glühenden Löffel zum Mann gebrannt wird. Dieser Schmerz ist für ihn noch eher zu ertragen als aus der Ferne beobachten zu müssen, wie würdelos der Vater sein Geld verdient.

Aufrührende Szenen, die den Umbruch einer Gesellschaft veranschaulichen, in der Tradition und Rollenverständnis ins Wanken geraten. Amin Matalqa, der auch das Drehbuch geschrieben hat, blickt voller Hoffnung auf die Kinder, denen er Zukunftsperspektiven in einem arabischen Land an der Schwelle zur Moderne wünscht, die für Kinder in der westlichen Welt selbstverständlich sind: Schule, Bildung und Ausbildung. Bilder von der Altstadt mit ihren malerischen Gassen, mit Teppichen belegten Dachterrassen, die den Blick auf Amman freigeben, kontrastieren die harten Familienszenen hinter verschlossenen Türen, vermitteln den Zauber dieser Großstadt im Nahen Osten.

Wenn die Träume fliegen lernen – so der Untertitel dieses poetischen, magischen Films, der die Sehnsucht nach anderswo weckt und die Fantasie beflügelt, begleitet von orientalischer Musik, ist ein Plädoyer für den Fortschritt. Der erste jordanische Spielfilm, der außerhalb seines Heimatlandes in den Kinos zu sehen ist, wurde auf internationalen Festivals mit über zwanzig Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem World Cinema Audience Award auf dem Sundance Film Festival, und war Jordaniens Nominierung für den Auslands-Oscar.

Gudrun Lukasz-Aden

 

Permalink für Verlinkungen zu dieser Seite Dauerhafter, direkter Link zu diesem Beitrag


Ausgabe 118-2/2009

 

Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009|

Filmbesprechungen

AFTERSCHOOL| DAS ANDERE UFER| CAPTAIN ABU RAED| ICH SCHWÖR'S, ICH WAR'S NICHT!| DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA| DAS MÄDCHEN| MAI MAI MIRACLE| MARY AND MAX| MAX PEINLICH| MY SUICIDE| NILOOFAR| PLANET CARLOS| PONYO ON THE CLIFF BY THE SEA| PRINZESSIN LILLIFEE| SIEBEN TAGE SONNTAG| SNOW| VORSTADTKROKODILE|

Interviews

Begic, Aida - "Man konnte uns töten, uns aus unserem Leben werfen, aber nicht unseren Geist, unsere Kraft, unsere Würde nehmen." | Campos, Antonio - "Jeder Film ist ein eigenständiges Kunstwerk und erfordert ein eigenes Gefühl"| Duffy, Martin - "Für mich gibt es schon einen Unterschied zwischen einem Kinderfilm und einem Familienfilm"| Falardeau, Philippe - "Ich habe wirklich viel gelernt bei der Sektion Generation und dafür bin ich sehr dankbar!" | Hailer, Thomas - "Das Land Eden für den Kinderfilm gibt es nicht"| Helfricht, Christian - Gespräch mit Christian Helfricht, dem Begründer der Initiative "Schule & Film"| MIller, David Lee - "Diese wunderbare 'Suicide'-Familie"| Ovashvili, George - "Ich habe diesen Film meiner unglücklichen Heimat gewidmet." | Overweg, Calle - "Den sozialen Betroffenheitsfilm kann man Kindern nicht anbieten"| Sonnenschein, Sabine und Joachim Steinigeweg - "Unser Anspruch war immer, nicht nur das zu zeigen, was sowieso schon in den Kinos zu sehen ist"|


KJK-Ausgabe 118/2009

PDF-Download Originalausgabe (PDF)

 

Anzeigen:

Einzelne Ausgaben:

Filmtitel nach Alphabet:

Zusatzmaterialien:

Volltext-Suche:

 

 


Sonderausgaben bestellen!