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Ausgabe 118-2/2009

"Diese wunderbare 'Suicide'-Familie"

Gespräch mit David Lee Miller, Regisseur und Koautor der amerikanischen Produktion "My Suicide"

(Interview zum Film MY SUICIDE)

Der 1955 in Milwaukee/USA geborene David Lee Miller arbeitete nach einem Journalistikstudium (Stanford University) und Creativ-Writing-Seminaren (Princeton) als Drehbuchautor, u. a. für die Spider-Man-Trickfilmserie, konzipierte Video- und PC-Spiele sowie die CD-Rom "Mozart the Dissonant Quartett". 1993 drehte er mit "Breakfast of Aliens" seinen ersten Spielfilm.

KJK: Das Publikum im Berliner "Babylon" hatte ganz offensichtlich das Gefühl, mit "My Suicide" eine Weltpremiere erlebt zu haben, die das Zeug für einen Kult-Film hat. Am Ende konnten Sie und Ihre Crew dafür den "Gläsernen Bären" in Empfang nehmen. Die Jugend-Jury begründete ihre Entscheidung mit der Faszination durch den "fesselnden Inhalt" und die "originelle Machart", mit der Sie die "Einsamkeit und Sehnsucht nach Liebe" von Ihrem Protagonisten "authentisch und beängstigend" in Szene gesetzt haben. Wie haben Sie es geschafft, ein aktuelles Jugendproblem so glaubwürdig in der Diktion und Film-Sprache von Teenagern auf die Leinwand zu bringen?
David Lee Miller: "Indem ich junge Leute zwischen 18 und 22 Jahren nicht nur als Schauspieler oder Berater eingesetzt habe, sondern mit Schlüsselpositionen betraute: in der Produktion, an den Kameras, bei Schnitt, Script, Animation, visuellen Effekten und der Musikauswahl. Bei ihrer Musik sind junge Leute ja besonders empfindlich. Angefangen hat das alles mit meinem Sohn Jordan. Er ist jetzt 22 und hat schon sehr früh seine Video-Arbeiten beim Exdance-Festival in Sundance gezeigt. 2002 gewann er ein Stipendium der Stadt Thousand Oaks, mit dem er auf die Haupt-Todesursachen von Teens in Amerika – auf Autounfälle, Selbstmord und Gewalt – für die Organisation 'By Youth. For Youth' aufmerksam machen sollte. Unter ihrem Dach gründeten wir daraufhin die gemeinnützige Produktionsfirma 'Regenerate', um – zusammen mit anderen in Vorbeuge- und Selbsthilfe-Projekten engagierten Jugendlichen – einen richtig guten, ehrlichen Film über einen jungen Mann zu machen, der vor seiner Klasse ankündigt, sich für das Abschluss-Projekt seines Video-Kurses vor der Kamera umzubringen."

Nicht nur bei Ihnen, auch in anderen Beiträgen der Sektion Generation – selbst bei der Kinderfilm-Reihe – ist Selbstmord ein Thema.
"Es ist eines. Denn die Selbstmörder werden immer jünger und die Rate steigt nicht nur bei uns erschreckend an. Einen der vielen Gründe möchte ich im Zusammenhang mit meinem Film benennen. Wir, d. h. die Mehrzahl der Menschen in den Industrienationen, leben in einem ungewöhnlichen Zeitalter. Durch die neuen Informations-Technologien sind wir mit der ganzen Welt verbunden und wer nach 1986 oder mindestens in den 90ern geboren wurde, kann sich ein Leben ohne Computer gar nicht mehr vorstellen. Die Kinder sind total vernetzt und was die technische Handfertigkeit betrifft, auch das digitale Filmemachen, sind sie besser als ihre Eltern. Sie haben es von klein auf in den Fingerspitzen, aber sie erfahren für ihre erstaunliche Kompetenz keine Anerkennung. Wenn überhaupt darauf reagiert wird, müssen sie sich anhören: Du hast alles, was du willst, Computer, Videogames, was denn noch! Und weil es an der Kommunikation zwischen den Generationen mangelt, jeder sich einigelt, lernen Kinder nicht, wie man kommuniziert. Vor dem Computer fühlen sie sich oft sehr einsam, allein gelassen und von der Wirklichkeit so isoliert, dass sie an Selbstmord denken. Der ist ja seinem Wesen nach narzisstisch, denn wer sich umbringen will, hat das Gefühl, der einzige zu sein, der so allein ist und leidet. Aber wenn man – und das wollten wir am Beispiel von Archie zeigen – seine Gefühle zeigt, darüber spricht, mit anderen agiert, kann man aus seiner Isolation rauskommen."

In Ihrem Film gibt es unzählige Einsprengsel aus Aufklärungsfilmen, verschiedene Kamera-Stile, Formate, Animationen etc. – am Anfang schwirrt einem ein bisschen der Kopf.
"Wie bei Archie. Der Film sollte ja eine Momentaufnahme aus der Sicht eines lebensmüden jungen Mannes liefern und deshalb mussten wir immer eng an ihm dran bleiben, durften nie etwas anderes vermitteln, als was Archie tatsächlich erlebt. Anfangs verhält er sich total widersprüchlich, ist verzweifelt und ungestüm, produziert wie verrückt Kritzeleien, Animationen, Video-Schnipsel. Aber in dem Moment, wo er sich auf das Mädchen einlässt und einige wirklich ernste Dinge passieren, haben wir das Tempo gebremst. Der Film wird sehr viel intimer und ernsthafter, entwickelt eine andere Spannung, die den Zuschauer emotional mehr beteiligt. Auch für ihn wird es nun eine Sache von Leben und Tod. Trotzdem verlieren wir nie Archies Gesichtspunkt. Hier in Berlin fand ich so toll, dass das Publikum selbst im narzisstischen verrückten ersten Akt sofort verstanden hat, wovon die Geschichte handelt – bei den Tests in Amerika haben nämlich viele gar nicht mitgekriegt, dass da von Anfang an sehr traditionelle Erzählelemente sind. Hinter 'My suicide' steht nämlich eine solide Erzählstruktur mit drei Akten, die in jedem Moment eingehalten wird. So wird das Mädchen schon in den ersten vier Minuten eingefügt, kündigt Archie seinen Selbstmord bereits in den ersten acht bis zehn Minuten an – und je mehr er mit der Welt um sich herum kommuniziert und zusammenwächst, desto mehr nimmt der Film einen traditionellen Erzählfluss an.  Und auch das, was total improvisiert wirkt, wurde von Eric Adams, von mir und Gabriel Sunday meist genau aufgeschrieben."

Gabriel Sunday hat auch mitgeschnitten, aber vor allem den Archie überzeugend verkörpert.
"Ja. Sie können sich nicht vorstellen, wie viele junge Männer wir uns für die Rolle von Archie angesehen haben. Wir haben nämlich auch ein ganz traditionelles Casting gemacht, auch Brooke Nevin wurde unter 500 Mädchen ausgewählt. Aber als wir auf Gabriel stießen, sind wir mit unserem Film einen entscheidenden Schritt vorwärts gekommen. Denn mit ihm schien es möglich, den Jugendlichen ihre authentische Stimme zu geben. Die ist nebenbei gesagt auch phantastisch, ein Instrument, mit dem er alles ausdrücken kann. Der Junge ist einfach phänomenal – übrigens als Regisseur genauso talentiert wie als Schauspieler."

Wie war denn die Arbeit mit den jungen Leuten für Sie?
"Das war eine fabelhafte Erfahrung. Die jungen Künstler als Partner zur Seite zu haben, war ein Geschenk und eine unwahrscheinliche Freude. Für sie war die Arbeit an diesem Film sicher das Nonplusultra einer Filmschule, an der sie auch gelernt haben, wie man eine Geschichte erzählt, wie man sie entwickelt und aufbaut. Am PC war ich ihnen viel zu langsam, da haben sie mich immer fortgeschickt. Und in ihrem Einsatz und Ideen-Reichtum waren sie nahezu unerschöpflich. Also ich habe mit meinen 53 Jahren dabei auch noch 'ne Menge dazugelernt. Ja, und während unseres langen Arbeitsprozesses hat sich unsere ohnehin große Familie ständig erweitert – außer Jordan und meiner vier Jahre jüngeren Tochter Sarah, die selbst schon einen internationalen Kurzfilm-Preis gewonnen und für uns die Musik rausgesucht hat, habe ich noch zwei ältere Stiefkinder und sechs Enkel. Aber vor allem Gabriel hat uns ständig weitere junge Künstler angeschleppt und diese wunderbare 'Suicide'-Familie hat nicht nur unserem Film seine Authentizität gegeben, sondern unser aller Leben bereichert. Zu kommunizieren anstatt sich um sich selbst zu drehen, etwas mit anderen tun, was Spaß macht, Teil von etwas sein, das mehr ist als man selbst – darin liegt für mich der Schlüssel zum Lebensglück. Das haben auch die jungen Leute gefühlt und das ist die Botschaft in unserem Film."

Sie haben vier Jahre daran gearbeitet. Wie sah das im Einzelnen aus?
"Wir haben versucht, eine experimentelle Form des Geschichtenerzählens zu finden, aber angebunden an bestimmte Charaktere und die Struktur einer Geschichte in drei Akten. Wir haben genau festgelegt, was wo durch Dokumentation, Animation und andere digitale Effekte erzählt werden sollte – und als wir alles für einen wirklich coolen Film beisammen hatten, haben wir realisiert, dass wir ein Script und auch eine ganz traditionelle Kamera-Arbeit brauchten, um Talente und Geld anzuziehen. Eric Adams und ich haben dann ein ganz normales Script geschrieben und rausgeschickt. So haben wir David Carradine, Joe Mantegna, Mariel Hemmingway und Nora Dunn, diese ganze tolle Besetzung, gefunden. Allein von Carradine könnte ich Ihnen stundenlang erzählen! Die normalen Dreharbeiten haben nicht mehr als 20 Tage gedauert und mit dem Material sind wir gleich in den Schneideraum gegangen und haben es mit Jordan, Gabriel, dem Animateur Arvin Bautista und dem blutjungen Joe Kastely, der für die Spezial-Effekte zuständig war, bearbeitet. Wir haben immer entlang der Zeitschiene weiter geschrieben, gingen wieder raus, um kleine Szenen aufzunehmen, drehten vor einer grünen Leinwand nebenan in einer kleinen Galerie oder auch im Schneideraum, haben mehr geschrieben, mehr gedreht, das war ein richtiger Trip. Dieser faszinierende Arbeits-Prozess war ganz wichtig, um das Herz des Films einzufangen, die Authentizität der Charaktere und ihrer Geschichte. Wir hatten weitere Kameras, Überwachungskameras, eine kleine Handkamera, und zwischendurch mussten wir immer wieder Geld auftreiben. Wir hatten so viel Glück, dass viele Profis, die ich mir nie hätte leisten können, die Idee und Machart unseres Films so toll fanden und mitmachten."

Haben Sie eigentlich europäische Wurzeln?
"Ich bin ein waschechter Russe, alle aus meiner Familie kommen aus einer jüdisch-russischen Familie und einer meiner Vorfahren ist Scholem Alejchem, der 'jiddische Shakespeare'. Meine Mutter ist Malerin, mein Vater Architekt, meine ältere Schwester Brenda eine sehr bekannte Videokünstlerin und ich wusste lange nicht, ob ich Musiker oder Schriftsteller werden sollte.
Mein nächster Film wird von Daniel Johnston handeln, einem wundervollen verrückten Musiker, den wieder Gabriel verkörpern wird. Viele wirklich potente Hollywood-Filmer haben sich schon um die Rechte bemüht, nicht so kleine Indie-Filmer wie wir, aber wegen 'My suicide' und Gabriels Kontakt zu dem Künstler hat man sie uns gegeben. Wir haben schon mit dem Script angefangen."

Mit David Lee Miller sprach Uta Beth

 

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Ausgabe 118-2/2009

 

Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009|

Filmbesprechungen

AFTERSCHOOL| DAS ANDERE UFER| CAPTAIN ABU RAED| ICH SCHWÖR'S, ICH WAR'S NICHT!| DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA| DAS MÄDCHEN| MAI MAI MIRACLE| MARY AND MAX| MAX PEINLICH| MY SUICIDE| NILOOFAR| PLANET CARLOS| PONYO ON THE CLIFF BY THE SEA| PRINZESSIN LILLIFEE| SIEBEN TAGE SONNTAG| SNOW| VORSTADTKROKODILE|

Interviews

Begic, Aida - "Man konnte uns töten, uns aus unserem Leben werfen, aber nicht unseren Geist, unsere Kraft, unsere Würde nehmen." | Campos, Antonio - "Jeder Film ist ein eigenständiges Kunstwerk und erfordert ein eigenes Gefühl"| Duffy, Martin - "Für mich gibt es schon einen Unterschied zwischen einem Kinderfilm und einem Familienfilm"| Falardeau, Philippe - "Ich habe wirklich viel gelernt bei der Sektion Generation und dafür bin ich sehr dankbar!" | Hailer, Thomas - "Das Land Eden für den Kinderfilm gibt es nicht"| Helfricht, Christian - Gespräch mit Christian Helfricht, dem Begründer der Initiative "Schule & Film"| MIller, David Lee - "Diese wunderbare 'Suicide'-Familie"| Ovashvili, George - "Ich habe diesen Film meiner unglücklichen Heimat gewidmet." | Overweg, Calle - "Den sozialen Betroffenheitsfilm kann man Kindern nicht anbieten"| Sonnenschein, Sabine und Joachim Steinigeweg - "Unser Anspruch war immer, nicht nur das zu zeigen, was sowieso schon in den Kinos zu sehen ist"|


KJK-Ausgabe 118/2009

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