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Ausgabe 118-2/2009

DAS MÄDCHEN

FLICKAN

Produktion: ACNE Film Stockholm; Schweden 2008 – Regie: Fredrik Edfeldt – Buch: Karin Arrhenius – Kamera: Hoyte van Hoytema – Schnitt: Bernhard Winkler – Musik: Mad Planet, Dan Berridge – Darsteller: Blanca Engström (Mädchen), Vidar Fors (Ola), Shanti Roney (Vater), Annika Hallin (Mutter), Tova Magnusson Norling (Anna), Emma Wigfelt (Tina) u. a. – Länge: 95 Min.- Farbe – Weltvertrieb: Delphis Films, Montréal, Fax: +1 514 8439574, e-mail: distribution@delphisfilms.com – Altersempfehlung: ab 10 J.

Das Mädchen ist fast zehn Jahre alt, zart, zerbrechlich und introvertiert, mehr in seinen Fantasien lebend, als in der Wirklichkeit. Gerade hat es eine Impfung über sich ergehen lassen, denn die Familie will die Sommerferien in Afrika verbringen. Die Kinder sollen sich erholen, die Eltern wollen Entwicklungsarbeit leisten, "Gutes" tun. Kurz vor der Abfahrt erfahren sie, dass ihre Tochter nicht mitkommen kann: Ein paar Monate fehlen ihr zum zehnten Lebensjahr. Vorschrift ist Vorschrift, aber von ihren Reiseplänen wollen die Eltern deshalb nicht abgehen. Alles ist bereits gebucht und bezahlt, außerdem muss die Mutter mal weg von hier, weg von der Eintönigkeit des gewohnten Landlebens. Also wird auf die Schnelle ein Schwimmkurs gebucht und Vaters jüngere Schwester zum "Babysitten" bestellt. Doch Tante Anna zeigt für ihre schweigsame Nichte wenig Interesse und empfängt zudem ständig Männerbesuch. Kurzerhand organisiert das Mädchen für die Tante eine Einladung zum Segeln. Die nimmt Anna tatsächlich an, "nur für ein paar Tage".

Das Mädchen bleibt zurück, allein in dem großen, leeren Haus. Den Schwimmkurs besucht es nicht mehr weiter, traut es sich doch nicht, vom Dreimeterbrett zu springen. Und niemand ist da, der Mut macht. Auch mit der Freundin Tina und deren neuer Begleiterin hat es bald keine Lust mehr zu spielen, benehmen sich die beiden doch pubertär-zickig und behandeln es wie eine Untergebene. Tinas unangenehmen, ziemlich anzüglichen Vater weicht das Mädchen ohnehin am liebsten aus. Immer mehr zieht es sich ins Haus zurück, vor allem in sein Versteck im Stall, liest Bücher, sammelt Bilder, bastelt und träumt vor sich hin. Der Einzige, der das Mädchen aus der Einsamkeit und in die Wirklichkeit holt, ist der gleichaltrige Ola. Sie spielen zusammen, streifen durch die Natur, fangen Kaulquappen und beobachten Tiere. Doch dann stürzt Ola bei einem Streit vom Heuboden herunter und muss ins Krankenhaus. Nun ist das Mädchen ganz allein. Schuldgefühle und tiefe Verzweiflung lassen die Kleine physisch und psychisch zusammenbrechen. Ist es Traum oder Wirklichkeit, dass ein junger Mann in einem Heißluftballon auf einer Wiese in der Nähe landet und das Mädchen rettet? Auf jeden Fall aber ist das Mädchen, als die Eltern von ihrer Reise zurückkehren, "gewachsen", wie die Mutter sofort bemerkt. Was aber die Tochter hat reifen und erwachsener werden lassen, werden die Eltern nie erfahren ...

Mit "Flickan" stellte der in Stockholm geborene Regisseur Fredrik Edfeldt auf der Berlinale/Generation Kplus seinen ersten Spielfilm vor, der – was die eindrückliche Bildsprache, das Einfühlungsvermögen in die kindliche Psyche und die Auswahl der Kinderdarsteller betrifft – ganz in der Tradition der skandinavischen Kinderfilmproduktion steht. Es geht hier um ein existenzielles Problem eines Kindes, das mit der ihm gebührenden Ernsthaftigkeit behandelt wird. Ganz anders als in der deutschen Produktion "Lippels Traum", in der der Held in einer ähnlichen Situation ist, versteht es Fredrik Edfeldt, die seelischen Konflikte seiner Protagonistin über Äußerlichkeiten hinaus spürbar zu machen. Er findet Bilder und Metaphern für die emotionale Überforderung und Verlorenheit dieses Mädchens, dessen Namen wir nicht erfahren – vielleicht weil sein Schicksal für das vieler anderer Kinder steht.

Edfeldt bleibt ganz in der Realität, er fokussiert sich auf das zerbrechliche Wesen, lässt die Kamera auf seinem Gesicht ruhen, begleitet es in der Einsamkeit des Hauses. Mit der zehnjährigen Blanca Engström hat er zudem eine Hauptdarstellerin gefunden, die das Mädchen nicht "spielt", sondern selbst all die bedrohlichen Situationen und das Gefühl der Verzweiflung zu durchleben scheint. "Das Mädchen" berührt Kinder wie Erwachsene gleichermaßen. Sicher bedeutet dieses Kinoerlebnis für Kinder auch eine Herausforderung, aber es gibt ihnen die Möglichkeit, sich auf der Leinwand wieder zu finden, sich verstanden zu fühlen und daraus Kraft zu schöpfen. Die Internationale Jury von Generation/Kplus nannte Edfeldts Debüt ein "atemberaubendes Portrait kindlicher Einsamkeit" und zeichnete es mit einer lobenden Erwähnung aus.

Barbara Felsmann

 

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Ausgabe 118-2/2009

 

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Filmbesprechungen

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Interviews

Begic, Aida - "Man konnte uns töten, uns aus unserem Leben werfen, aber nicht unseren Geist, unsere Kraft, unsere Würde nehmen." | Campos, Antonio - "Jeder Film ist ein eigenständiges Kunstwerk und erfordert ein eigenes Gefühl"| Duffy, Martin - "Für mich gibt es schon einen Unterschied zwischen einem Kinderfilm und einem Familienfilm"| Falardeau, Philippe - "Ich habe wirklich viel gelernt bei der Sektion Generation und dafür bin ich sehr dankbar!" | Hailer, Thomas - "Das Land Eden für den Kinderfilm gibt es nicht"| Helfricht, Christian - Gespräch mit Christian Helfricht, dem Begründer der Initiative "Schule & Film"| MIller, David Lee - "Diese wunderbare 'Suicide'-Familie"| Ovashvili, George - "Ich habe diesen Film meiner unglücklichen Heimat gewidmet." | Overweg, Calle - "Den sozialen Betroffenheitsfilm kann man Kindern nicht anbieten"| Sonnenschein, Sabine und Joachim Steinigeweg - "Unser Anspruch war immer, nicht nur das zu zeigen, was sowieso schon in den Kinos zu sehen ist"|


KJK-Ausgabe 118/2009

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