(Interview zum Film AFTERSCHOOL)
Antonio Campos, geboren 1983 in New York, studierte an der Tisch School of the Arts der Universität N.Y., drehte über 20 Kurz- und Dokumentarfilme, gewann für seinen Kurzfilm "Buy It Now" den ersten Preis der Cinéfondation in Cannes. "After School" ist sein Spielfilmdebüt.
KJK: In Ihrem Film greifen Sie eine ganze Reihe von Themen auf. Welche sind die wichtigsten?
Antonio Campos: "Für mich geht es vor allem um einen Jungen, der einen großen Teil seiner Erfahrungen aus dem Computer bezieht und nun ähnliche Situationen in der sozialen Realität erlebt. Er wird mit ihnen konfrontiert und weiß nicht, wie er damit umgehen soll. Es geht auch um Schuld und die Frage, wer an dem Tod der beiden Mädchen beteiligt war, ob es sich um einen Drogentod handelt oder ob mehr dahinter steckt."
Ist dieser Junge namens Robert so eine Art alter ego von Ihnen?
"Er ist nicht so, wie ich in meiner eigenen Highschool-Zeit war, aber er verkörpert einen ganz wesentlichen Teil von dem, was ich damals fühlte, meine Unsicherheiten, meine Schuldgefühle, meine Verwirrung in jenem Alter. Vieles von dem, was er fühlt, die Isoliertheit, Unsicherheiten in Bezug auf seine Freundschaften und Zweifel an allem, fühlte ich als Teenager genauso. Die Dinge allerdings, die ihm zustoßen, habe ich nicht erlebt und ich war auch in keiner Videoklasse. Ich war mir sehr früh ganz sicher, später einmal Filmemacher werden zu wollen."
Gibt es dennoch konkrete Ereignisse oder Erlebnisse, die Sie zu diesem Film inspiriert haben?
"Nicht direkt, aber kurz nach dem Beginn meines letzten Jahres auf der Highschool passierte 9/11 und der Vater meines besten Freundes starb in einem der Zwillingstürme. Am Ende des Schuljahres starb auch noch ein guter Freund von mir bei einem Unfall in Amsterdam. Beide Ereignisse zusammen binnen eines einzigen Schuljahres führten dazu, dass ich mich als 18-Jähriger plötzlich mit dem Tod beschäftigte. Ich fühlte mich irgendwie verbunden mit diesem Vorfall, obwohl es keine Familienangehörigen waren. So entstand die Idee von einem Jungen, der beobachtet, wie zwei Mädchen an einer Überdosis Drogen sterben. Und diese Idee entwickelte sich in den folgenden vier, fünf Jahren immer weiter."
Setzen sich amerikanische Jugendliche in diesem Alter normalerweise mit dem Tod und der eigenen Sterblichkeit auseinander?
"Selbstverständlich gibt es niemanden, der darüber nicht Bescheid weiß, zumal die Medien davon berichten, insbesondere in den Nachrichten. Aber meistens fühlt man sich davon nicht unmittelbar betroffen. Insgesamt lebt man in den USA doch ziemlich sicher und abgeschirmt, selbst wenn es auch Gewalt und Schießereien an Highschools oder 9/11 gibt und man selbst einmal zum Augenzeugen eines nicht vorhersehbaren Gewaltaktes werden kann. So etwas passiert natürlich und die unmittelbar Beteiligten benötigen einige Zeit, diesen Schock zu verarbeiten. Aber genau darum geht es auch in meinem Film."
Viele Filme heute visualisieren Jugendgefühle mit schnellen Schnitten, Handkamera und in pseudodokumentarischem Stil. Sie machen es vollkommen anders und Sie sind dazu selbst noch sehr jung. Wie kommt das?
"Der Film 'Thirteen' von Catherine Hardwicke über eine 13-Jährige mitten in der Pubertät machte mich damals ziemlich wütend. Denn hier gab eine andere Person vor, wie Jugendliche angeblich seien. Das hatte mit meiner eigenen Erfahrung aber nichts zu tun. Daher habe ich auch schon in meinem ersten Kurzfilm über eine 16-Jährige damit experimentiert, was passiert, wenn ich die Musik und die schnellen Schnitte weglasse und mich nur auf die Gesichter der Menschen konzentriere. Mir lag daran, die Personen so zu zeigen, wie sie sich fühlen und wie sie sind und nicht mit einem bestimmten Filmstil ihre Gedanken und Gefühle so zu visualisieren, dass eigene Überlegungen des Zuschauers fast nicht mehr möglich sind."
Warum drehten Sie den Film in Cinemascope? Das ist für die Thematik schon ungewöhnlich.
"Zum Teil genau deswegen, weil es eben nicht der Sichtweise entspricht, in der die Menschen diese Welt betrachten. Zum anderen konnte ich dadurch den Unterschied zwischen den im Film verwendeten Videoszenen und dem Film selbst hervorheben. Die Welt des Films ist einfach komplett anders als die Welt des Videofilms. Das führte manchmal sogar zu technischen Problemen beim Drehen mit den Darstellern, denn die Welt des Videofilms scheint viel direkter und realer als die des Kinofilms."
Im Film geht es auch um den großen Einfluss der heutigen Medien auf die junge Generation. Sehen Sie diese Entwicklung eher als Gefahr oder als Chance?
"Also ich gehöre nicht zu denjenigen, die denken, Leute gehen ins Kino und schießen anschließend jemanden über den Haufen. Aber die Medien beeinflussen uns insofern, als viele der aufgenommenen Bilder und Ereignisse lediglich der reinen Unterhaltung dienen, auch wenn zu sehen ist, wie Leute sterben. Man sieht diese Bilder zu demselben Zweck, sowohl unterhalten als auch schockiert zu werden, man sieht sie als real an, obwohl sie auch konstruiert wurden. Die größte Gefahr besteht in einer Überflutung mit solchen Bildern."
Für Robert wird das Internet die Primärquelle zum Erlernen von Rollenverhalten. Ist das typisch für die heutige Generation?
"Ich glaube nicht, dass er sich hier von anderen wesentlich unterscheidet. Jeder ist in gewisser Hinsicht anders als die anderen, aber inzwischen verbringen die Menschen immer mehr Zeit im Internet, selbst ihre Beziehungen und ihre Kommunikation mit Freunden finden über das Internet ihre Fortsetzung. Die Menschen erfahren auf diese Weise eine Menge über die Realität. Natürlich gibt es auch Menschen, die im Internet ein zweites Leben haben, in einem virtuellen Raum leben, aber um diese Menschen geht es mir nicht. Je realer solche Welten werden, desto mehr experimentieren wir auch mit diesen Welten außerhalb unserer äußeren Realität."
Kritisieren Sie da auch das amerikanische Schulsystem?
"Das bezieht sich allenfalls auf das öffentliche Schulsystem. Dort entwickelt sich die Übermedikamentation der Schüler wirklich zum Problem. Einige dachten, ich hätte die Szene erfunden, in der sich Schüler in einer Reihe anstellen, um Medikamente, insbesondere Tranquilizer und Psychopharmaka zu empfangen, aber das ist die Realität. Diese Form des Drogenkonsums wird exakt verwaltet. Ich halte die USA für das Land, in dem mehr als in jedem anderen Land auf der Welt viel zu viele Medikamente verabreicht und eingenommen werden."
Robert besucht eine Filmklasse und lernt dort, wie Filme gemacht werden, vielleicht auch, um besser auf die Welt der Medien vorbereitet zu werden. Sie scheinen mir da etwas skeptischer?
"Nun ja, oft ist es nur der Computerlehrer, der solche Kurse anhand eines in die Hand gedrückten Lehrbuchs durchführt und vom Filmemachen selbst nur wenig Ahnung hat. Natürlich ist es gut, wenn jemand wirklich Filme machen möchte und die Gelegenheit dazu in einer solchen Filmklasse erhält. Wenn man einen guten Film drehen möchte, wird man ohnehin den Drang verspüren, zu experimentieren und sich nicht auf das zu reduzieren, was in der Filmklasse gelehrt wird. Inzwischen werden solche Filmklassen und die Idee, einmal Regisseur zu werden, immer beliebter, zumal das Wissen über die Machart von Film und Fernsehen zunimmt, den möglichen Ruhm eingeschlossen."
In der Filmklasse wollen einige Schüler einen Horrorfilm drehen, andere einen Porno. Einen weiteren Nutzen sehen Sie nicht?
"Immerhin macht Robert genau den Film, den er sich vorstellt. Vom Lehrer wird dieser allerdings als schrecklich beurteilt. Jeder, der ein Kunstwerk herstellt, muss mit einer solchen Zurückweisung rechnen und natürlich wird eine Schule nichts billigen, was radikal oder vollkommen anders ist."
Wie sind Sie denn selbst zum Filmemachen gekommen?
"Ich war damals 13 Jahre alt und musste vorgeben, ich wäre schon 16, um meinen ersten Film auf 16mm zu drehen. Ich wollte immer schon mit Film und nicht mit Video arbeiten, also musste ich dafür auf die Kunsthochschule gehen, wo ich mehrere Kurzfilme drehte. Der erste hieß 'Puberty' und drehte sich um einen Jungen in der Pubertät. Jedes Jahr drehte ich dann einen weiteren Kurzfilm auf 16 mm, begann dann aber auch, mit meinen Freunden eine Reihe von Videofilmen zu drehen, in denen ich experimentieren und Neues ausprobieren konnte. Beispielsweise zeigte ich nie die Gesichter meiner Freunde, sondern filmte ihre Füße oder ihre Hände, und überprüfte dann, wie das auf andere wirkte. Schließlich hatte ich mit meinem auf der Filmhochschule gedrehten Film 'Buy it now' meinen ersten größeren Erfolg."
Gab es filmische Vorbilder, möglicherweise sogar aus Europa?
"Ja, zuerst Ingmar Bergman und Rainer Werner Fassbinder, später dann Michael Haneke und Bruno Dumont. Auch einige frühe Filme von Jean-Luc Godard haben mich beeinflusst, vor allem 'Weekend' und 'Die Versuchung, sowie 'Rote Wüste' von Antonioni. Natürlich denke ich beim Drehen nicht an diese Vorbilder, dennoch haben sie mich stark beeinflusst."
Diese Einflüsse sind im Film auch bei Roberts Erinnerungsvideo zu spüren. Wie reagierte denn das amerikanische Publikum darauf?
"Man kann die Fehler des offiziellen Gedenkvideos eigentlich nur dann klar erkennen, wenn man Roberts Video im Vergleich dazu sieht. Es gab tatsächlich eine Menge Leute in den USA, die meinen Film deshalb nicht mochten. Sie fühlten sich durch die Art und Weise angegriffen, wie ich die Menschen porträtiert habe."
Was wird Ihr nächstes Projekt sein?
"Es wird ganz anders und sich doch nicht von dem unterscheiden, was mir an einem Film wichtig ist. Jeder Film ist ein eigenständiges Kunstwerk und erfordert ein eigenes Gefühl. Ich schätze Filmemacher, die ihren eigenen Stil haben und diesen immer wieder reproduzieren, aber auch solche, die flexibel sind. Daher halte ich mich zuerst einmal an die Geschichte und überlege dann, wie ich sie am besten umsetzen kann."
Das Interview mit Antonio Campos führte Holger Twele auf der Berlinale 2009
Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009
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