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Ausgabe 118-2/2009

"Ich habe diesen Film meiner unglücklichen Heimat gewidmet."

Gespräch mit George Ovashvili, Regisseur und Autor des Films "Gagma Napiri – Das andere Ufer"

(Interview zum Film DAS ANDERE UFER)

George Ovashvili (Jahrgang 1963) studierte an der Polytechnischen Akademie (1981-86) und am Georgischen Institut für Theater und Film (1990-96) in Tbilissi; spielte am dortigen Staatlichen Schauspielhaus, war als Regisseur am Kindertheater tätig, leitete eine Werbeagentur und unterrichtete an der Filmakademie; außerdem realisierte er eine Reihe von Kurz-/Dokumentarfilmen sowie Filmmusicals.

KJK: Ihr deprimierendes Roadmovie mit dem georgischen Flüchtlingsjungen Tedo, der seiner hoffnungslosen Situation in Tiflis dadurch zu entkommen versucht, indem er in seine seit dem Bürgerkrieg 1992/93 zu Abchasien gehörende Heimatstadt Tkvarcheli zurückkehrt, ist für mich einer der traurigsten, aber auch schönsten Filme der diesjährigen Berlinale.
George Ovashvili: "Danke für das Kompliment. Eigentlich wollte ich ein bisschen mehr Hoffnung vermitteln. Noch während der Arbeit habe ich gedacht, dass der Film nicht so traurig enden dürfe. Man sollte lächeln oder sogar lachen können – wenn auch unter Tränen. Doch je mehr wir uns dem Ende näherten, fühlte ich, dass es einfach nicht anders geht. Natürlich ist der Schluss für den Zuschauer jetzt sehr hart, vielleicht zu hart, aber wahrhaftig. Ich habe mit dem Herzen entschieden, dass es so, wie es jetzt endet, richtig ist."

Sie reden von der Szene, in der Tedo mit den abchasischen Soldaten, die ihn gerade mit dem Tod bedrohten, tanzt. Nach diesem Tanz kneift er wieder die Augen zu – wie immer, wenn er schreckliche Angst hat, in diesem Fall vor dem, was die Zukunft bringt.
"Ja. Tedo hat nun alles versucht. Schlussendlich muss man eben miteinander tanzen, essen, singen! Es ist besser als zu sterben."

Nach dem georgischen Vorstoß in Südossetien sind die Russen im vergangenen August in Georgien einmarschiert – hatte das einen Einfluss auf Ihre Arbeit?
"Nein, denn zu diesem Zeitpunkt waren wir fast fertig, auch mit dem Schnitt und einigen Arbeiten am Sound – da konnten wir nichts mehr von der neuen Situation einarbeiten. Wir haben ja die ganze Postproduktion im Ausland gemacht: die Nachbereitung in einem Labor in Istanbul, einige Sound-Arbeiten in Litauen, andere in der Tschechischen Republik. Es war wirklich eine internationale Zusammenarbeit. Die Musik für den Tanz und das Lied am Schluss stammt zum Beispiel von einer Band, die in Deutschland lebt und arbeitet, sie nennt sich ‘The Shin’, was auf georgisch ‘Nach Hause kommen’ bedeutet. Der Bandleader, der ein tiefes Gefühl für die abchasische Folklore hat und im Film auch getanzt hat, ist abchasisch-georgischer Abstammung, die anderen Musiker sind Georgier. Ansonsten stammt die Musik von dem inzwischen weltberühmten Josef Bardanashvili, der 1995 von Georgien nach Israel ausgewandert ist."

Mich haben besonders die wie gemalt wirkenden Bilder beeindruckt, die mich an Bühnenbilder in einem Stationen-Drama erinnern. Jede Szene hat da ihre unverwechselbare, unvergessliche Bild-Komposition.
"Für mich ist es immer sehr wichtig, die richtigen Drehorte zu finden – um sie zu finden, bin ich ein paar Monate durch ganz Georgien gereist. Und dann hatte ich mir in den Kopf gesetzt, einen Kameramann aus dem Iran zu holen, weil der iranische Film eine ganz besondere Bildsprache hat. Wahrscheinlich hat meine Vorliebe damit zu tun, dass wir Georgier und die Iraner uns in unserer Mentalität ähneln und uns in unserer Sicht der Dinge, in unseren Visionen sehr nahe sind. So habe ich mir ausgemalt, dass es doch ein interessantes Experiment wäre, eine georgische Regie mit den Augen der Iraner zusammen zu bringen! Anfangs hatte ich einen mir nicht bekannten jungen iranischen Kameramann, den mir Freunde empfohlen hatten. Wir arbeiteten also zwei Monate zusammen, aber irgendwie klappte es mit uns nicht, wir hatten Kommunikationsprobleme. Obwohl es mir schwer fiel, sagte ich ihm schließlich, dass wir nicht fortfahren könnten. Und dann habe ich meinen iranischen Freunden die Situation erklärt und sie noch mal um Hilfe gebeten. Sie empfahlen mir dann Amir Assadi, einen sehr erfahrenen Kameramann, der für Bahman Ghobadi 'Turtles can fly/Schildkröten können fliegen' gedreht hat. Mit ihm war es ein tolles Arbeiten, er hat ohne viele Worte verstanden, was ich jeweils sagen wollte."

Ich muss gerade an den Schnee in Tvarcheli denken.
"Um Tedos Stadt zu zeigen, sind wir hoch in das Gebirge an der Grenze zwischen Georgien und Abchasien gefahren. Für Abchasien haben wir ja leider keine Drehgenehmigung bekommen. Und auch so war das noch sehr, sehr schwierig, denn genau dort hielt sich gerade das russische Militär als Friedenskorps auf und wir hatten große Schwierigkeiten mit den Russen, weil sie andauernd kamen und fragten, was wir da überhaupt drehen wollten und das dann auch kontrollierten. Als wir mit der Sequenz anfingen, war herrlicher Sonnenschein – am Abend hatten wir die Episode zur Hälfte im Kasten und legten uns ganz zufrieden schlafen. Aber als ich am nächsten Morgen das Fenster öffnete, schneite es. Alles war weiß. Was sollten wir machen? Wir hatten so hart an dieser Sequenz gearbeitet, doch wie sollten wir sie nun zu Ende führen? Alle sagten: Ach, lass uns warten, bis die Sonne wiederkommt! Aber ich wusste, das könnte noch bis zum Frühling dauern, Monate. Deshalb entschied ich mich, alles wieder aufzubauen und erneut zu beginnen. Diesmal haben wir die ganze Episode in einem Tag gedreht und zwischendurch immer wieder zum Himmel geschaut und gebetet, dass es nicht aufhören möge zu schneien. Und tatsächlich: Vom Morgen bis zum späten Abend hat es immer weiter geschneit – als ob der Schnee gewartet hätte, bis wir mit unserer Arbeit fertig waren."

Sie zeigen eine trostlose, brutale Wirklichkeit. Anfangs in den geschlossenen Ladenstraßen und Ruinen von Tiflis, in denen die Kinder ums Überleben kämpfen, und auf der langen 'Heimreise' von Tedo wird die unglaubliche Verrohung durch den Krieg immer schmerzhafter bewusst. Fast niemand sieht in dem zwölfjährigen Tedo das Kind, sondern je nachdem sehen Georgier, Russen und Abchasen in ihm nur den Feind.
"Ich habe diesen Film meiner unglücklichen Heimat gewidmet. Er beruht auf einer wahren Geschichte. Der Drehbuchautor Nugzar Shataidze, der in Georgien ein sehr bekannter Schriftsteller ist, ein alter Mann schon, hat das Vorbild von Tedo in Tiflis auf der Straße getroffen und sich seiner angenommen. Der Flüchtlingsjunge aus Tkvarcheli erzählte ihm, wie er versucht hat, zu seinem in Abchasien gebliebenen Vater zurückzukehren, ganz so wie in unserem Film. Aber wir haben ja eine Menge solcher Flüchtlingskinder, die in Tiflis auf der Straße leben. Nach dem Krieg gab es bei uns nicht weniger als 300.000 Flüchtlinge aus Abchasien, seit dem neuen Krieg im August sind es vielleicht 80.000 mehr. Fast das halbe Land ist geflohen und lebt jetzt bei uns. Das ist schon ein großes Problem."

Ihr Protagonist Tedo Bekhauri hat dem Publikum erzählt, dass er auch an das traurige Schicksal seiner Heimat gedacht hat, als er in der letzten Szene so furchtbar weinen musste. Und die Übersetzerin meinte, das sei nicht verwunderlich, weil die neuere Geschichte Georgiens nicht nur in der Schule, sondern auch in den Familien ganz gegenwärtig ist. Wie fanden Sie Ihren wunderbaren Darsteller?
"Das hat fast ein halbes Jahr gedauert. Wir hatten 100 Kinder gecastet und die Hoffnung schon aufgegeben, bis ich Tedo plötzlich neben mir auf einem Stuhl in einer Poliklinik entdeckte. Es schien, als ob er dort sechs Monate auf mich gewartet hätte!"

Was verbindet Sie mit jenem Teil von Abchasien, in dem die Geschichte spielt?
"Ich habe fast meine ganze Kindheit dort verbracht, weil wir im Sommer immer dorthin ans Schwarze Meer gefahren sind. Es ist wirklich unglaublich schön da. Zuletzt war ich 1992 dort – drei Tage, nachdem wir weggefahren sind, fing der Krieg an."

Erzählen Sie uns noch ein bisschen mehr von sich.
"Ich bin 1963 in einem Dorf in der Nähe von Tiflis geboren und meine erste Erinnerung ist, dass ich am Fenster sitze und warte, bis der Zug kommt. Unser kleines Haus lag direkt an der Eisenbahnlinie, dazwischen lag nur ein großes Feld, und wenn ein Zug vorbeikam, wurde das ganze Haus erschüttert. Wenn ich die Bahn kommen hörte, die fuhren ja Tag und Nacht, wenn auch nicht so oft wie heute, rannte ich ans Fenster, träumte, dass ich selbst im Zug säße und irgendwohin führe. Dann wartete ich wieder auf den nächsten Zug. Da mitzufahren war mein großer Kindheitstraum! Ich bin aber nicht zur Eisenbahn gegangen. Meine Eltern, sie waren beide Mathematiklehrer, wollten, dass ich Ingenieur würde. Weshalb ich nach der Schule aufs Polytechnikum musste und dort habe ich dann fünf Jahre zugebracht. Ich wollte sie ja nicht enttäuschen, aber eigentlich wartete ich immer nur auf den Sommer, um meine Dokumentarfilmchen zu machen. Nach dem Studium bin ich aber auf das Staatliche georgische Institut für Film und Theater gegangen, habe dort meinen Abschluss gemacht. 2005 konnte ich hier auf der Berlinale bei der Sektion Panorama meinen Kurzfilm 'Zgvis Donidan' (Auf Augenhöhe) zeigen. Damit habe ich den ‘New York Film Academy Scholarship Award’ gewonnen, der mir sehr viel gebracht hat. Ich mag besonders die Filme von Charlie Chaplin und Federico Fellini – natürlich auch viele andere, Hitchcock zum Beispiel. Mein nächstes Projekt wird ein psychologisches Drama vor dem Hintergrund des letzten Krieges in Georgien sein. Es erzählt von einem 15-jährigen Mädchen, einem alten Mann und einem jüngeren russischen Soldaten."

Mit George Ovashvili sprach Uta Beth

 

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KJK-Ausgabe 118/2009

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