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Ausgabe 118-2/2009

NILOOFAR

Produktion: 3B Productions Paris / Khaneh Teheran / Crystal Film Beirut; Frankreich / Iran / Libanon 2008 – Regie: Sabine El Gemayel – Buch: Sabine El Gemayel, mit Unterstützung von Fereshteh Taerpour – Kamera: Bahram Badakhshani – Schnitt: Bahram Dehghani – Musik: Fardin Khalatbari – Darsteller: Mobina Ayenedar (Niloofar), Roya Nownahali (Salmah), Shahab Hosseini (Aziz), Hengameh Ghaziani (Firouzeh), Amir Aghai (Scheich Abbas) u. a. – Länge: 82 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Pyramide International, Paris,  Fax +331 40200551, e-mail: production@pyramidefilms.com – Altersempfehlung: ab 12 J.

Für Niloofar steht fest, dass sie einmal Ärztin werden will. Bei Banoo lernt sie deshalb lesen, rechnen und schreiben. Ihre Mutter sieht das nicht gern: Niloofar soll die Tradition fortsetzen und wie sie Hebamme werden. Doch dann macht der Vater sämtliche Pläne zunichte, als er Scheich Abbas seine hübsche zwölfjährige Tochter zur Frau verspricht, im Tausch gegen ein Stück Land. Sobald Niloofar zur Frau wird, soll sie heiraten. Die Frauen in der Familie sind entsetzt über diesen Handel, aber da die Familienehre nicht beschmutzt werden darf, ist ihr Schicksal damit unabänderlich beschlossen. Für eine Weile gelingt es Niloofar, ihre erste Menstruation zu verheimlichen, doch natürlich rettet sie das nicht dauerhaft vor der Zwangsehe mit dem Scheich, von dem es auch noch heißt, er habe seine eigene Tochter der Ehre wegen umbringen lassen. Niloofars Onkel Aziz ist es schließlich, der ihr einen Ausweg bietet, für den sie radikal alles hinter sich lassen muss, was einmal ihr Leben war. Doch auch jetzt ist Niloofar noch lange nicht in Sicherheit.

Tradition und festgelegte Geschlechterrollen kontra freigewählte Selbstbestimmung: "Niloofar" handelt von diesem Konflikt und erzählt am Beispiel der jungen Niloo, wie dieser auch heute noch das Leben vieler muslimischer Frauen bestimmt. Angesiedelt in einem irakischen Dorf, könnte sich Niloofars Geschichte auch in jeder anderen Gesellschaft zutragen, in denen Bildung den männlichen Mitgliedern vorbehalten ist und sich die Frauen um den Haushalt und die Aufzucht der Kinder kümmern. Regisseurin Sabine El Gemayel macht dabei deutlich, dass die Frauen deshalb keineswegs als schwache Opfer zu verstehen sind. Niloofars Mutter genießt als Hebamme großes Ansehen, und wenn die Frauen eine Gebärende mit vereinten Kräften unterstützen, wird offenbar, wer das starke Geschlecht ist. Die Frauen haben eine wichtige gesellschaftliche Funktion inne, in der sie respektiert werden – jedenfalls solange sie innerhalb der ihnen zugestandenen Rollen agieren.

Und genau hier setzt die Kritik des Films an:  Kindes- und Zwangsehe, Ehrenmorde – das ist die brutale Kehrseite im Namen der Tradition. Gegen das himmelschreiende Unrecht, das der besitzgierige Vater seiner minderjährigen Tochter antut, sind die Frauen machtlos, aber sie nehmen es nicht stumm hin, sondern kritisieren den Mann dafür heftig. Doch El Gemayels Kritik geht noch weiter: Die Zwangsehe einmal beiseite gelassen, ist Niloofar ja von vornherein unfrei und kann nicht einfach studieren und Ärztin werden. Tradition hat auch für deren Mutter Priorität, weder stellt sie das Bildungsverbot in Frage, noch hat sie Verständnis für die ureigenen Wünsche ihrer Tochter, die ihrem vorbestimmten Weg als Hebamme zuwiderlaufen.

Der Film berührt zutiefst mit Niloofars packender Geschichte, für die er beeindruckende Bilder und unglaublich schöne, ausdrucksvolle Darsteller findet. Auch vermeidet er ein einseitiges Negativbild von den Männern, indem er Niloofar einen männlichen Verbündeten zur Seite stellt: Ihr Onkel ist es, der entschlossen handelt und Niloofar vor ihrem Schicksal als Frau des Scheichs rettet. Auch der jüngere Bruder stellt sich im letzten Moment auf ihre Seite, indem er nicht im Namen der Familienehre zum Mörder seiner Schwester wird – womit er der Nächste ist, der sich seine vorbestimmte Rolle zu erfüllen weigert. Der Film entlässt den Zuschauer mit Niloofar an der Seite ihres Onkels auf der Flucht in die Anonymität einer fernen Großstadt. Es ist ein offenes Ende, das aber immerhin eine hoffnungsvolle Perspektive beinhaltet. Und wer weiß, Niloofars Wunsch könnte sich eines Tages irgendwo erfüllen, sie könnte tatsächlich zur Schule gehen und einmal Ärztin werden. Jedenfalls wünscht man ihr das.

Ulrike Seyffarth

 

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Ausgabe 118-2/2009

 

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KJK-Ausgabe 118/2009

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