(Interview zum Film DIE VILLA. GESCHICHTEN AUS DEM HEIM)
Calle Overweg, geboren 1962 bei Krefeld, erprobte sich nach dem Abitur in der Landwirtschaft, in der Juristerei, dem Bankwesen und arbeitete schließlich drei Jahre als Puppenspieler. Von 1989 bis 1995 studierte er an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb). 1993 besuchte er die Höheren Kurse für Szenaristen und Regisseure in Moskau.
Wovon träumen Kinder? Welche Ziele setzen sich heute die Erwachsenen von morgen? Mit diesen Fragen beschäftigte sich Calle Overweg in seiner Doku "Grünschnäbel" aus dem Jahr 1997. Sieben Jungen und Mädchen im Alter zwischen neun und dreizehn wurden vor der Kamera befragt, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Elf Jahre später traf der Regisseur vier seiner Protagonisten wieder, um zu überprüfen, was aus deren kindlichen Träumen geworden ist. Ob es sich zu träumen lohnt oder ob man schon früh von der Realität eingeholt wird, zeigte Overwegs ZDF-Doku "Grünschnäbel: Träume leben weiter" (2008). Und in der Dokumentation "Die Villa" (2005) erzählen zehn Kinder mit selbst gedrehten Szenen von ihrem Alltag in einem Berliner Kinderheim. Von drei 13-jährigen Schülern handelt "Da kann noch viel passieren" (2008): Sie heißen Paul, Nadine und Oleg. Alle drei wechseln, wie in Berlin üblich, nach der 6. Klasse von der Grund- auf eine weiterführende Schule; in ihrem Fall auf eine Haupt- und Realschule. Mit welchen Problemen haben sie zu kämpfen? Was sind ihre Ängste, was ihre persönlichen Ziele? Ein Jahr lang begleitete Calle Overweg die neue Klasse in einer Langzeitdokumentation durch ihren Alltag.
KJK: Ich habe Ihre Filme "Die Villa" und "Da kann noch viel passieren" gesehen. Bei beiden Filmen gibt es eine deutlich spürbare Nähe zwischen Ihnen als Filmemacher und den Jugendlichen. Wie schaffen Sie es, dass die Kinder sich vor der Kamera öffnen? Haben Sie da Tricks?
Calle Overweg: "Der Trick ist eigentlich kein Trick, sondern die Zeit, die man miteinander völlig 'absichtsfrei' verbringt. Und je mehr Zeit das ist, umso leichter funktioniert das. Man hat natürlich immer die Absicht, irgendwann einen Film zu machen, das versuche ich auch nicht zu verbergen, aber man kann das Kennenlernen nicht vorantreiben. Im Kinderheim ging das sehr gut, da konnte ich hingehen und abwarten, was passiert: Wir haben gemeinsam vor dem Fernseher gesessen oder waren gemeinsam einkaufen – wichtig war einfach der Faktor Geduld."
Als Zuschauer hat man manchmal den Eindruck, dass sie die Kamera völlig vergessen haben ...
"... ja, aber vielleicht wollten sie das auch darstellen, wie gemein sie sein können. Es geht in jedem Dokumentarfilm darum, Nähe zu den Protagonisten herzustellen. Und auf die Frage, wie man das schafft, gibt es eigentlich zwei Antworten: Zum einen, wie das menschlich passiert während des Drehs und zum anderen, wie rekonstruiert man die Nähe im Schnitt des Films."
Wenn ich die Jugendlichen in beiden Filmen miteinander vergleiche, dann erscheinen mir die Kinder aus der "Villa" viel zugänglicher, sie offenbaren sich viel stärker, was sicher auch daran gelegen hat, dass sie mit den Villa-Kindern so viel zusammen unternehmen konnten. Eigentlich müssten die Heimkinder viel schwieriger sein ...
"... das sind sie auch, aber eine Schulklasse ist als Ort viel schwieriger ..."
... weil sie die Kinder nicht so intensiv ins Private begleiten konnten ...
"Genau, aber der Hauptschulfilm war auch aus anderen Gründen ein bisschen schwieriger zu drehen. Eigentlich sollte das ein Kinofilm werden und deshalb habe ich die Zuschauerführung etwas weniger stark gestaltet, also prozentual war der subjektive Kommentar geringer. Bei der 'Villa' wusste ich, dass ich drei Teile fürs Fernsehen machen soll. Und erst als die Teile fertig waren, haben wir das zu einem langen Film zusammengefügt und gemerkt, dass er in der Langfassung wunderbar funktioniert."
Hinzu kommt sicher auch, dass der Film "Die Villa" noch eine Ebene der Medienreflexion hat, weil die Protagonisten selbst die Kamera in die Hand nehmen und sie sich in besonderer Form darstellen, was beim Hauptschulfilm so nicht der Fall ist, wo der Blick eher von außen nach innen geht ...
"... ich habe das in der Schulklasse auch versucht, aber schon in der 'Villa' merkt man schnell, dass das Verfahren an seine Grenzen stößt."
Hat das denn über die Selbstdarstellung im Film etwas für Ihre Arbeit gebracht?
"Ja, es hat denen meine Haltung klarer gemacht. Es ist für Kinder immer attraktiv, so ein Gerät in die Hand zu bekommen, das ist eine tolle Technik und macht viel Spaß."
Sinkt dadurch auch die Schwelle, vor der Kamera zu agieren?
"Ich empfinde das gar nicht als so große Schwelle, denn bei den Kindern, die darauf keine Lust hatten, hat sich das bei beiden Filmen auch nicht verändert. Prinzipiell kann man die Haltung, die die Leute haben, erst durch den fertigen Film noch mal beeinflussen. Wenn der Film fertig ist, finden immer alle, auch die, die keine Lust hatten, das Ergebnis toll."
Sie sprachen von Kindern, die nicht mitmachen wollen. Wenn Sie eine Gruppe aussuchen, könnte es ja sein, dass ganz viele nicht mitmachen wollen. Versuchen Sie dann zu überreden oder nehmen Sie eine andere Klasse?
"Nein, das mache ich nicht, weder in der Schule noch beim Kinderheim hätte ich eine andere Gruppe genommen. Ich versuche schon, dann zu überzeugen, denn das ist doch der Großteil der Arbeit, Leute dazu zu bewegen, sich so einer öffentlichen Selbstdarstellung auszusetzen."
Wie würden Sie den Dokumentarfilm für Kinder und Jugendliche im Gegensatz oder Vergleich zum Dokumentarfilm generell definieren?
"Es gibt natürlich eine Menge an Gemeinsamkeiten, mehr als man vielleicht denkt, und man sollte auch mehr zulassen. Ich mag überhaupt keine Filme, die nur Kinder gucken können, sondern Filme, die Kinder und Erwachsene sehen können. Dokumentarfilme für Kinder müssen relativ klar sein und manche Rezeptionsmuster auslassen: Den sozialen Betroffenheitsfilm kann man Kindern nicht anbieten. Ich rechne nicht mit einer Nachsicht, ich muss das Interesse wach halten und zwar mit einer klaren Dramaturgie."
Wie ist das eigentlich generell mit den Kindern und Jugendlichen, die Sie vor die Kamera holen: Die bekommen doch eine ungeheure und nie gekannte Aufmerksamkeit, aber irgendwann ist der Film abgedreht – fallen die da nicht in ein Loch?
"Das ist nicht so extrem, wie man vielleicht denkt. Die Dreharbeiten ziehen sich über einen langen Zeitraum, beim Schulfilm war es ein Jahr, in dem ich da immer wieder war. Die hatten also am Stück große Aufmerksamkeit. Und nach dem Dreh bin ich immer wieder hin, um mit ihnen die Kommentare auszuarbeiten. Und sehr viel später kommt dann die Premiere des Films, das ist dann fast der Abschied. Im Kinderheim bin ich auch nach der Premiere noch ein paar Mal vorbeigegangen, aber es gab in beiden Fällen keine seelischen Enttäuschungen über mein Fernbleiben."
Mit Ihren "Grünschnäbel"-Filmen sind Sie nach zehn Jahren zu den Protagonisten einer Dokumentation zurückgekehrt. Könnten Sie sich das auch für Kinder aus den Filmen "Die Villa" und "Da kann noch viel passieren" vorstellen?
"Auf jeden Fall habe ich ein Interesse daran zu erfahren, wie es Leuten ergeht, die ich mal so gut kannte. So werde ich auch bei Nadine wieder aufkreuzen und die werde ich auch filmen, die halte ich für sehr, sehr interessant. Sie ist eine unglaublich gute Selbstdarstellerin, sie kommt aus einer am sozialen Rand lebenden Familie und ihr Schicksal interessiert mich."
Wenn Sie da jetzt weiterfilmen, arbeiten Sie aber ohne Auftrag?
"Ja, ich habe in eine eigene Kamera investiert und möchte das verfolgen. Es ist schon tollkühn."
Die traumatischen Erlebnisse aus der Vergangenheit der Heimkinder haben Sie in "Die Villa" als Animationssequenzen inszeniert, inzwischen gibt es ja mit "Waltz with Bashir" sogar den ersten vollständig animierten Dokumentarfilm in Spielfilmlänge. Widersprechen diese neuen Formen nicht in gewisser Weise den klassischen Dokumentationen, die sich an der Wirklichkeit orientieren und sie abbilden wollen?
"Das Prinzip bei meinem Film war ja, subjektiv Erlebtes subjektiv wiederzugeben, um auch Schuldzuweisungen aus dem Weg zu gehen, denn das Erlebte existiert nur in der subjektiven Erinnerung. Der Trickfilm war auch eine Möglichkeit, diese verstreuten Erinnerungen zu bündeln: Hinter zwei Minuten Trick verbergen sich bis zu drei Stunden intensives Gespräch. Hier war es die richtige Entscheidung, aber in anderen Fällen muss man das immer wieder neu überlegen, wie lässt sich etwas am besten ausdrücken. Einen vollständig animierten Dokumentarfilm kann ich mir nur vorstellen, wenn es aus dem Stoff heraus Sinn macht. Beim Dokumentarfilm geht es ja nicht nur um die Abbildung von Wirklichkeit, sondern die Vorstellung von Wirklichkeit wachzurufen."
Aber verschwindet das nicht, wenn es nur animiert ist?
"Das kommt darauf an, es ist dann die Frage, wie fasst man den Genre-Begriff ..."
Hat der Dokumentarfilm nicht auch den Anspruch, authentisch zu sein?
"Authentizität spiegelt sich in vielen verschiedenen Filmformen wieder. Das hat der Dokumentarfilm von Haus aus gepachtet, aber man kann in einem noch so dokumentarisch gedrehten Film unauthentisch werden und in einem vollkommen künstlich hergestellten Spielfilm authentisch werden."
Sie waren Landwirtschaftspraktikant, Bankkaufmann, Puppenspieler und dann erst Filmstudent. Jetzt sind Sie Dokumentarfilmer, würden Sie wieder gerne etwas anderes machen?
"Fürs Filmemachen habe ich eine Begabung und da würde ich gerne weitermachen. Ich arbeite an einem Spielfilmstoff, den ich aus dem Hauptschulfilm heraus entwickelt habe. Mein großes Anliegen dabei ist, Schule als einen positiven und coolen Ort darzustellen, weil er es wirklich ist und weil es darauf ankommt, Kinder für die Schule zu gewinnen. Ich bin da fast missionarisch, weil ich gesehen habe, wie viele Kinder der Hauptschule verloren gehen, weil sie nicht in Schulen sind, in denen sie was lernen können. Es stachelt meinen Ehrgeiz an, das als Spielfilm zu probieren, weil ich damit auch mehr Leute erreichen kann. Der Dokumentarfilm steht eben für viele in der Ecke und ist das hässliche Geschwisterkind der Spielfilme, die attraktiver sind."
Wenn man sich die Kinolandschaft ansieht, haben es in den letzten Jahren doch eine ganze Reihe von Dokumentarfilmen ins Kino geschafft, dagegen hat der Dokumentarfilm vor zehn Jahren wirklich in der Ecke gestanden ...
"Aber wenn man sich die Zuschauerzahlen ansieht, dann ist doch selten einer dabei, der mehr als 5.000 Besucher hat. Die guten Zahlen für einen Dokumentarfilm sind bei einem Spielfilm nur mittelprächtig – und die guten Quoten eines Spielfilms sind für Dokumentarfilme nicht erreichbar. Gerade in der Kinderzielgruppe wäre ein Spielfilm, der den schulischen Erfolg als etwas Cooles zeigt, wirklich super – und das möchte ich haben."
Interview: Manfred Hobsch
Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009
Filmbesprechungen
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