Produktion: KW Filmproduktion / HFF "Konrad Wolf"; Deutschland 2008 – Regie: Andreas Kannengiesser – Buch: Catrin Lüth – Kamera: Stephan Fallucchi – Schnitt: Martin Reimers – Musik: Martin Spange – Darsteller: Mario José Chavez Chavez (Carlos), Katherine Mercedes Molina Zelaya (Isabel), Cristel Sofia Sanchez Hernandez (Kenia), Mercedes Antonia Corea Gutiérrez (Mutter), Ana Estela Laguna Martinez (Scarleth), Silvio René González Gomez (Eduardo) u. a. – Länge: 86 Min. – Farbe – Info: www.planetcarlos.de – Altersempfehlung: ab 12 J.
Der 13-jährige Carlos lebt in einer Hüttensiedlung am Rande von Léon/Nicaragua. Das Leben ist nicht einfach; seine Mutter arbeitet Tag und Nacht, sein Stiefvater Eduardo hat keine Arbeit und trifft sich mit Nachbarn und Freunden zu Alkoholrunden, seine jüngere Schwester Kenia und ihr Huhn sind unzertrennlich und seine ältere Schwester Scarleth will ihre eigenen Wege gehen. Zwischen seiner Mutter und Eduardo herrscht permanenter Streit und bald wird dieser die Familie verlassen. Carlos geht nicht regelmäßig zur Schule, da er alle Gelegenheiten nutzt, Geld zu verdienen. Eine Chance dazu bietet sich als Mitwirkender in einer Gigantonagruppe. Das ist eine traditionelle Gruppe von Kindern, die um eine zwei Meter große Puppe herum tanzen, singen und Verse aufsagen, wobei es einige festgelegte Rollen gibt.
Als es zu einem Streit zwischen den Kindern kommt, wird Carlos aus der Gruppe geworfen. Da das Geld ausbleibt, muss er auf dem Markt als Bananenträger arbeiten – ein Job, der körperlich anstrengend ist und ihn in ein schlechtes Umfeld bringt. Carlos versucht einen Neuanfang und gründet eine eigene Gruppe, zu der die etwas ältere Isabel stößt. Auch sie möchte sich verändern und träumt von einem Leben am Meer mit Strand und Sonne. Aber der Anfang für die neue Gigantonagruppe ist mühsamer als erwartet. Ein schneller Erfolg bleibt aus. Carlos Mutter ist von dieser Entwicklung wenig begeistert und es bleibt Carlos nichts anderes übrig, seine Sachen zu packen und heimlich abzuhauen. Die Kinder machen sich auf den Weg, um den bekannten Dichter Diaz aufzusuchen. Die Erwartung, dass er über Stipendien-Gelder verfügt, erfüllt sich nicht und die Gruppe löst sich im Streit auf. Carlos ist enttäuscht, aber er verzweifelt nicht. Gemeinsam mit Isabel, Kenia und dem Huhn flüchtet er an einen Strand. Hier findet er die Kraft für einen Neuanfang und stellt sich der Verantwortung. Er wird seinen Weg gehen; man darf ihm vertrauen.
Die Geschichte dieses Films ist in ihrem Plot vergleichbar den Filmen der Grupo Chaski "Gregoria", "Juliana" und "Gregorio und Juliana" (Peru 1984 bis 1995). Auch hier geht es um Kinder und Jugendliche, die aus eigener Kraft heraus Überlebens-Strategien entwickeln und durchsetzen. Im Gegensatz zu diesen Filmen ist "Planet Carlos" aber keine Produktion einer nationalen Kinematografie, sondern der erste Langspielfilm von Andreas Kannengiesser, Regiestudent an der HFF Potsdam-Babelsberg. Die Produktion wurde vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und der Wolfgang und Gerda Mann Stiftung "Medien für Kinder" unterstützt.
Der Film hat sein Thema nicht nur in der Milieuzeichnung und der Entwicklung des Charakters seines Protagonisten, sondern auch im Kontrast zwischen der Intensität und Schönheit der Verse und der tristen Alltagsrealität der Kinder. Die Kamera bleibt auf ihrer Augenhöhe und nimmt sich dabei noch die Zeit für Impressionen und Bilder des Umfeldes – die Straßen, Hütten, Märkte und Menschen. Eindrucksvoll ist beispielsweise die Sequenz, in der Carlos seine neue Gruppe zusammenstellt und die Kinder aus der Nachbarschaft beim Casting kurze Auftritte haben: heiter, unbeschwert und erwartungsvoll. Das sagt mehr über sie aus als die ständig reproduzierten Bilder vom Elend der Straßenkinder, die TV-Teams weltweit verbreiten. Hier, in diesem Film, wird den Kindern ihre Würde belassen – ein Ergebnis gründlicher Recherchen und verantwortungsvoller Vorgehensweise.
Für "Planet Carlos" ist der Regisseur Andreas Kannengiesser mit einigen seiner Kommilitonen nach Léon gereist. Dort kamen Teammitglieder aus Nicaragua hinzu. Dem Drehbuch liegen zahlreiche Gespräche und Begegnungen zugrunde sowie die Erfahrungen und Erlebnisse der Kinder, mit denen der Regisseur und die Drehbuchautorin zuvor in zwei Workshops gearbeitet haben. Die Authentizität der Geschichte speist sich aus dem offenen Charakter des Projektes: Es wurde an Originalschauplätzen und mit Laiendarstellern gedreht. Ursprünglich hat Kannengiesser beabsichtigt, eine Dokumentation über Straßenkinder zu drehen: "Vor Ort begann ich mit den Recherchen. Bald fühlte ich mich wie ein Suaheli, der in Deutschland eine Dokumentation über Sauerkraut drehen will. Also teilte ich Einwegkameras an Kinder aus und stellte ihnen die Aufgabe, zu fotografieren – was auch immer sie wollten. Die Ergebnisse vor Augen, wollte ich mich dem Land auf keinen Fall mehr aus (m)einer Außensicht nähern, sondern den Film aus dem Land heraus erzählen. Es war ein konsequenter Entschluss, aus diesem Grund keine Doku zu drehen. Ich beschloss, eine Geschichte zu suchen, die so sehr mit dem Land verwoben ist, dass Handlung, Handlungsort und Drehweise zu einem untrennbaren Ganzen verschmelzen und die Grenzen zwischen Spielfilm und Dokumentation völlig unwichtig werden. 'Planet Carlos' erzählt deshalb nicht mehr die Geschichte eines Straßenkindes. Ich erhebe auch keinen Anspruch darauf, irgendeine Wirklichkeit abgebildet zu haben. Ich erzähle von einem Jungen, der um seinen Traum kämpft. Ich erzähle es, weil es eine wichtige Geschichte für Nicaragua ist, aus meiner Sicht vielleicht die Wichtigste überhaupt."
"Planet Carlos" ist als DVD in spanischer Originalfassung mit deutschen oder englischen Untertiteln verfügbar. Somit ist gewährleistet, dass den Kindern in dem Film ihre Sprache nicht genommen wird. Obwohl sich diese Entscheidung nicht vorteilhaft auf die Rezeption bei uns auswirkt, ist dem Film eine möglichst weite Verbreitung zu wünschen. Wer sagt denn, dass deutsche Kinderfilme immer nur im eigenen Land spielen müssen und von wilden Kerlen oder wilden Hühnern handeln?
Horst Schäfer
Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009
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