(Interview zum Film ICH SCHWÖR'S, ICH WAR'S NICHT!)
Philippe Falardeau, geboren 1968 in Hull/Québec, studierte in Ottawa Politik und Internationale Beziehungen. Für das Nachwuchsprogramm von Radio Canada realisierte er 1992 und 1993 seine ersten Dokumentarfilme; im Jahr 2000 folgte mit "La Moitie Gauche du Frigo" sein Spielfilmdebüt.
KJK: Soweit ich informiert bin, haben Sie als Drehbuchautor und Regisseur Ihrer Dokumentar- und Spielfilme bereits sechs Film-Preise gewonnen und jetzt auf der Berlinale sind wieder zwei dazu gekommen. Welche Bedeutung hat es für Sie, dass Ihr dritter Spielfilm "C'est pas moi, je le jure!" nicht nur mit dem Gläsernen Bären der Kinderjury ausgezeichnet wurde, sondern auch den mit 7500 Euro dotierten Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerkes erhalten hat?
Philippe Falardeau: "Ich war überwältigt, als ich den Bären bekam. Nie hätte ich damit gerechnet! Und als ich dann noch ein zweites Mal auf die Bühne musste, war mir das fast schon ein bisschen peinlich. Aber natürlich habe ich mich riesig gefreut! Wobei der Preis der Kinder-Jury für mich fast noch wichtiger ist, weil in Quebec gerade intensiv darüber debattiert wird, ob man Kindern diesen Film überhaupt zumuten kann. Zugegeben, als Zielgruppe haben wir Kinder überhaupt nicht im Auge gehabt – aber hier in Berlin habe ich die verschiedenen Aspekte meines Films plötzlich mit deren Augen gesehen und erfahren, was Kinder in meinem Film fühlen. Ich habe verstanden, dass ihre Wahrheit eine andere ist als meine eigene. Während Erwachsene den Film entweder durch die Perspektive der Eltern oder aus der Erinnerung an die eigene Kindheit wahrnehmen, haben die Kinder keinen Filter, sondern werden von dem Geschehen ganz unmittelbar und direkt betroffen."
Wie schwer wird es für Sie sein, einen Verleih zu finden?
"Ich bin als Pessimist bekannt. Und bisher gab es seitens der Verleiher für diesen Film kein Interesse. Das ist ja ein hartes Geschäft, aber vielleicht findet sich jetzt aufgrund der Preise doch ein kleinerer Arthouse-Filmverleih. Aber egal, ich habe hier festgestellt, dass der Film imstande ist, die Aufmerksamkeit von Kindern von Anfang bis Ende zu halten, und das war eine große Überraschung für mich. Ich habe wirklich viel gelernt bei der Sektion Generation, nicht zuletzt in Bezug auf das Drehbuch-Schreiben und Filmemachen für jüngere Zuschauer, und dafür bin ich sehr dankbar."
Wie oder wo fanden Sie die Geschichte für Ihren provokativen, anrührenden und aufregenden Film?
"Vor zehn Jahren habe ich mich in die Hauptfigur des gleichnamigen Buches von Bruno Hébert verliebt. Im Grunde ging es da um einen zehnjährigen Jungen, der in einem destruktiven Umfeld den Zwang hat, sich selbst zu zerstören. Der Humor von Hébert hat mich umgehauen und nach der Lektüre des Buches konnte ich gar nicht fassen, wieso ich bei einer so hochdramatischen Geschichte in einem fort lachen konnte. Ich fand, das war ein phantastischer Filmstoff und habe den Verleger um die Rechte gebeten, obwohl ich bis dato keinerlei Spielfilmerfahrungen hatte. Der aber hatte gerade an einen anderen Produzenten verkauft und ich dachte, das war's. In meinem Hinterkopf aber spukte der Junge, der in seiner kindlichen Unbefangenheit immer wieder versucht, mit der Welt der Erwachsenen klar zu kommen, weiter herum. Als ich dann vor fünf, sechs Jahren erfuhr, dass die Rechte wieder frei waren, kramte ich mein altes Buch heraus, an dessen Rand ich mir schon Notizen geschrieben hatte, kaufte die Rechte und machte mich an die Arbeit – immerhin hatte ich inzwischen ja schon zwei Spielfilme gedreht. Das Drehbuch habe ich dann ganz allein geschrieben, aber Bruno Hébert konnte es jederzeit lesen."
Worin unterscheidet es sich von dem Buch?
"Im Buch spielt sich alles, was da passiert, im Kopf des Kindes ab – es ist ein sehr literarischer Humor, weil das zehnjährige Kind dort mit der Erfahrung des 40-jährigen Autors spricht. Dort endet der Junge in der Psychiatrie und wir wissen auch nicht, ob das Mädchen nur in seiner Einbildung existiert. Ich habe das aus zwei Gründen geändert: Erstens wollte ich nicht, dass man am Ende des Films sagt, aha, das war also alles nur ein Traum! Und zweitens wollte ich, dass Leon für seine Taten verantwortlich ist, ich wollte keine Entschuldigung für seine Zerstörungswut. Er weiß, was er tut und er ist dafür verantwortlich und das ist das, was ich an dieser Figur schätze. Wenn er am Ende überlebt, hat er etwas Entscheidendes über die Liebe und über den Tod gelernt, ist langmütiger und geduldiger geworden. Auch wenn er weiter Eier an die Haustür seiner Nachbarin wirft! Für mich war es auch wichtig, dass er seiner Mutter sagt, dass er sie immer noch liebt. Vielleicht weil man als Kind gar keine andere Wahl hat."
Sie mussten sicherlich nicht nur an der Geschichte was ändern, um die Gleichzeitigkeit von Dramatik und Komik zu erhalten?
"Die Komik der Vorlage zu transformieren, zu meiner eigenen zu machen und einen filmischen Weg dafür zu finden, war für mich die größte Herausforderung. Erstmal habe ich versucht, ein wenig Distanz zwischen mich und das Thema zu legen, dann habe ich einige Kontrapunkte eingebaut. Wenn Leon sich zum Beispiel gleich am Anfang versucht, zu erhängen, habe ich eine Melodie unter die Szene gelegt, die wie ein heiteres Kinderlied klingt. So denkt man automatisch, das geht schon gut aus. Und wenn dann der Bruder kommt und an seinen Beinen zerrt, um ihn zu retten, aber schon zwei Sekunden später losrennt, um seine Mutter zu holen, was ja absolut keinen Sinn macht, fangen die Zuschauer an zu lachen, obwohl die Situation so ernst ist. Immer wenn etwas Dramatisches passiert, habe ich gleichzeitig ein komisches Element eingefügt, aber nicht durch einen Scherz oder einen entsprechenden Dialog, sondern durch ein filmisches Element. Es gibt nur zwei Ausnahmen: wenn die Mutter die Familie verlässt oder Leon sich in die Tiefe stürzt, um der Bestrafung seines Vaters zu entgehen. In allen anderen Fällen, auch bei seinem letzten sehr dramatischen Selbstmordversuch, gibt es etwas Ulkiges, was ihn erträglicher macht. Ich erziele auch Distanz, indem ich die Farben im Ton leicht verfremde. Außerdem spielt die Geschichte immerhin 40 Jahre früher. Sie könnte ebenso mit den Worten beginnen: Es war einmal."
Was bedeutet der Fuchs in diesem Zusammenhang?
"Der Fuchs ist ein Sinnbild für Leon in all seinen Facetten. Er ist wie der Fuchs, der auch dann nicht gezähmt werden kann, wenn er unter Menschen aufgewachsen ist. Der Fuchs ist ein kluges Tier, listig, wild und intelligent genug, um jederzeit zu entkommen. Wie Leon, der ja unzählige Tricks, Finten und Lügen parat hat, um sich aus misslichen Situationen zu befreien. Und immer, wenn das Tier auftaucht, ist es ein Anzeichen dafür, dass sich etwas im Seelenleben von Leon verändert."
Bei Ihnen wird nichts unter den Teppich gekehrt.
"Nein. Wenn man sich mit Familienproblemen beschäftigt, sieht man, dass in der Realität so viel versteckt, eben unter den Teppich gekehrt wird, dass mich das in Filmen eigentlich nicht interessiert. Vor vielen Jahren wurde ich umgetrieben von der Frage, die sich Truffaut sein ganzes Leben gestellt hat: Sind unsere Filme wichtiger als das Leben? Ich meine nein, aber in unseren Filmen können wir versuchen, Probleme so klar wie möglich zu machen, ganz ohne jede Moral. Ich möchte im Film niemals eine Moral oder eine Botschaft einbauen. Ich habe keine Botschaft, aber ich bin daran interessiert, gegenwärtige Probleme vorurteilslos so genau wie möglich zu betrachten, um sie zu verstehen und zu erkennen, welche Konsequenzen verschiedene dramatische Ereignisse haben werden. Wenn ich etwas mit meinen 40 Jahren gelernt habe, ist es die Erkenntnis, dass man wahrhaftig sein muss, wenn man eine Kamera auf jemanden richtet, weil sie sonst die Lüge vorführt. Man muss, selbst wenn man einen Science-Fiction-Film oder eine Fantasy-Geschichte dreht, wahrhaftig sein! Wenn ich also die Kamera auf einen Schauspieler richte, denke ich nur daran, wie wahr das ist, was in diesem Moment abgeht."
Haben Sie cineastische Vorbilder?
"Nicht direkt, aber ich mag Truffaut sehr, auch Ken Loach, Mike Lee, Stanley Kubrick und Steven Spielberg, der mich allerdings auch am meisten enttäuscht hat. Aber ich mag seine frühen Filme wie zum Beispiel seine 'Unheimliche Begegnung der dritten Art'. Aber oft ist er so Hollywood-mäßig, weshalb ich mir wünschen würde, er hätte nur drei Millionen Dollar für einen Film zur Verfügung. Vor allem mag ich nicht, wenn er versucht, eine Moral zu verkaufen, eine Botschaft – aber er ist eben ein Supertalent. Man geht nicht wegen der Themen in seine Filme, aber man lernt dort, wie und wo man eine Kamera postiert – die Eröffnungsszene von 'Der Soldat James Ryan' gab mir einen Begriff von der Filmsprache."
Haben Sie ein neues Projekt?
"Ja, ich bin schon dran. Der Film wird in der Grundschule spielen, in einer 6. Klasse, wo der Lehrer stirbt und von einem Emigranten aus Algerien ersetzt wird, und er, der aus einer ganz anderen Kultur stammt, leitet einen Prozess ein, der der ganzen Klasse gut tut. Der Film wird die ganze Zeit nur im Klassenraum spielen."
Sie kennen den Film "Entre les murs" (Die Klasse) von Laurent Cantet, der die Goldene Palme in Cannes erhalten hat?
"Ja, er ist sehr gut. Als ich ihn gesehen habe, war ich ziemlich deprimiert, weil ich dachte, ich müsse meinen Film nun vergessen. Aber da ich mindestens drei oder vier Jahre dafür brauche, wird man vielleicht vergessen haben, dass es so ein Thema schon gab. Und vielleicht nutzen mir ja die Preise aus Berlin, da es ja wieder ein Film mit Kindern ist."
Mit Philippe Falardeau sprach Uta Beth
Inhalt der Print-Ausgabe 118-2/2009
Filmbesprechungen
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