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Ausgabe 102-2/2005

"Solange Öl und Geld bei uns fließen, wird es immer Krieg geben"

Gespräch mit Bahman Ghobadi, Regisseur und Drehbuch-Autor des iranisch-irakischen Films "Auch Schildkröten können fliegen"

(Interview zum Film AUCH SCHILDKRÖTEN KÖNNEN FLIEGEN)

KJK: In Ihrem dritten Spielfilm haben Sie sich wieder dem Elend der kurdischen Kinder zugewandt. Lässt Sie das Thema der um ihre Kindheit betrogenen Kurden, das Sie in Ihrem Debütfilm "Die Zeit der trunkenen Pferde" so eindrucksvoll dargestellt haben, einfach nicht los?
Bahman Ghobadi: "Eigentlich wollte ich mich diesmal der Geschichte meiner Familie zuwenden. Die Kinder wären da nur am Rande aufgetaucht. Als ich jedoch im vergangenen Jahr nach Bagdad fuhr, um meinen zweiten Spielfilm 'Verloren im Irak' vorzustellen, habe ich all die versehrten Kinder gesehen und gedacht, ich muss ihre Geschichte für die Nachwelt festhalten. Die Kinder sind unsere Zukunft und ich möchte, dass auch künftige Generationen sehen und begreifen, welches Unrecht an ihnen geschehen ist und geschieht."

Worin besteht das Unrecht?
"Wir Kurden werden geboren und müssen sofort erwachsen werden. Wir sind immer bedroht. Wenn es Krieg gibt – und wann gibt es bei uns keinen Krieg! – geraten wir unweigerlich zwischen die Fronten. Kurdistan ist ja kein unabhängiges Land, sondern eine Region, die teils zur Türkei, teils zum Iran, zum Irak und zu Syrien gehört. Der Mittlere Osten ist der beste Absatzmarkt für den Verkauf von Waffen und bei uns werden am meisten abgesetzt. Die Staatsgrenzen sind total vermint und auch, wenn nicht gekämpft wird, laufen wir ständig Gefahr, auf so eine Mine zu treten. Jeden Tag sterben dort unschuldige Menschen oder werden verstümmelt. Bei uns gibt es kein Kind, das in seiner Familie nicht mindestens einen nahen Verwandten verloren hat, kaum eines, das nicht seelisch und körperlich versehrt ist. Kann man überhaupt in einer schlimmeren Situation sein?"

Wie sind Sie auf den Titel Ihres neuen Spielfilms gekommen?
"Pro Jahr werden in der ganzen Welt etwa 5000 Filme gedreht. Da ist es schon gut, wenn man diesen Film in seinem visuellen oder mentalen Gedächtnis behält und vielleicht auch dank seines Titels nicht so schnell wieder vergisst. In gewisser Weise identifiziere ich das Leben der jungen Agrin mit dem einer Schildkröte. Mit ihrem Kind erinnert sie mich – wie auch ihr Bruder Hengov, wenn er den Jungen auf dem Rücken trägt – an das Reptil, das seine schwere Bürde mit sich herumschleppt. Bei Agrin sieht man, wie schwer sie an der Last ihrer schrecklichen Erfahrungen trägt und wie sie verzweifelt versucht, sich davon zu befreien, zu springen, zu fliegen – selbst in den Tod. All diese Bilder kamen mir in den Sinn, als ich das Mädchen gesehen habe und ihre Geschichte entwickelte."

Was bedeutet am Schluss die Prophezeiung von Hengov, in 275 Tagen würde noch etwas geschehen?
"Es hätte auch heißen können, in 300 Tagen oder schon morgen. Damit wollte ich eigentlich nur, dass man darüber nachdenkt, was die Zukunft meinem Volk bringt. Ich habe nämlich die Befürchtung, dass schon morgen ein Angriff aus der Türkei kommt oder dass es jetzt im Konflikt zwischen den Amerikanern und dem Iran knallt. Solange Öl und Geld bei uns fließen, wird es immer Krieg geben, egal wie, Gründe finden sich immer."

Als wir 2001 miteinander sprachen, sagten Sie, dass Sie sich von dem Erlös Ihres ersten Spielfilms ein Haus gekauft haben, das Sie für Ihr nächstes Projekt beleihen wollten. Hat das so funktioniert?
"Ja, mit dem Geld konnte ich mich an den zweiten Film wagen, in Teheran eine erste kurdische Firma gründen, die unsere Filme vertreibt, und im Nordirak ein zweites Büro errichten, um eine eigene kurdische Filmproduktion aufzubauen. Zur Förderung gehört auch, dass ich jeweils ein Mitglied aus meinem Team ausbilde. So hat Ayoub Ameneh, der Hauptdarsteller aus den 'Trunkenen Pferden', bei meinem zweiten und dritten Spielfilm als Assistent mitgearbeitet. Im nächsten Jahr wird er seinen ersten eigenen Film drehen und ich werde ihn produzieren. Avaz Latif, das junge Mädchen aus meinem neuen Film, arbeitet nun für einen lokalen Fernsehsender und Soran Ebrahim, der den 'Satellit' spielt, wird mir bei meinem nächsten Projekt assistieren."

Lebt eigentlich der schwer behinderte Madi noch, Ayoubs kleiner 'Bruder' aus dem Film "Die Zeit der trunkenen Pferde"?
"Schön, dass die Kinder hier nicht vergessen sind. Ja, Madi geht es besser. Er ist auf unsere Kosten operiert worden – nicht in der Schweiz, dafür hat sein Vater nicht die Erlaubnis gegeben – und es ist alles gut verlaufen. Aber jetzt muss er noch mal operiert werden."

Wie und wo haben Sie diesmal Ihre Geschichte und die Schauspieler gefunden?
"Erst gab es nur eine vage Idee. Für die Finanzierung habe ich etwa 15 Szenen geschrieben und bin dann mit einem kleinen Team drei Monate im irakischen Teil von Kurdistan herumgefahren, um die Charaktere, die Darsteller und die Drehorte zu finden. Die Kinder stammen aus ganz verschiedenen Dörfern, die oft mehrere hundert Meilen von einander entfernt liegen. Mit ihnen zusammen habe ich dann den Rest der Geschichte entwickelt. Alle Schauspieler sind Laien und kaum einer hat schon mal ferngesehen. Leider gibt es bei uns so viele intelligente und schöne Kinder, die versehrt sind, und wenn sie das bittere Leid nicht am eigenen Leib erfahren haben, dann in der Familie, so dass sie das stellvertretend für sie rüber bringen. Unsere Agrin z. B., die aus ganz ärmlichen Verhältnissen stammt, hat so viel von ihren Vorfahren gehört, dass deren leidvollen Erfahrungen in ihr eingeprägt sind und sie sie daher so überzeugend darstellen kann. Für sie und die anderen Kinder ist es nicht schwer, zu spielen, es ist ja ihr Leben."

Aber wie schaffen Sie es, dass sie vor der Kamera so natürlich agieren? Manchmal glaubt man ja, in einem Dokumentarfilm zu sein.
"Es beginnt damit, dass man ihnen Vertrauen und Zutrauen gibt, und wenn wir dann drehen, sind wir 24 Stunden zusammen. Wir leben zusammen, wir essen zusammen, wir fahren im gleichen Wagen und sie wissen, dass sie die Stars sind, wichtiger als die Produzenten, Kameramänner und Techniker. Sie sind dann so frei, dass sie alles können, was sie sollen. Und nachts ändere ich die Dialoge für den nächsten Tag ab, füge ihre eigenen Geschichten ins Drehbuch und passe die Rollen ihrem Charakter an. Tatsächlich ist es ihr Beitrag, der am Ende den Film ausmacht, auch wenn sie selbst gar nicht erkennen, was da alles von ihnen stammt. Wenn meine Hauptdarsteller der Einladung nach Berlin hätten folgen können, hätten sie einen Schock gekriegt, weil sie gewahr würden, wie sehr sich ihre Lebenssituation von der europäischer Kinder unterscheidet. Das tut mir sehr weh."

Warum sieht man eigentlich keine Familien und fast keine Frauen und Mädchen in Ihrem Film?
"Da ich einen Film gegen den Krieg machen wollte, sollte das Publikum sehen, wie viele Waisen es bei uns gibt und wie sie füreinander sorgen, weil niemand anders es tut. Sie suchen und finden die familiäre Geborgenheit in der Gruppe. Da man in 90 Minuten nicht alles zeigen kann, werden die Frauen und Mädchen durch Agrin repräsentiert. Außerdem erzähle ich in meinen Filmen in gewisser Weise auch immer von mir, meinen eigenen Frustrationen und bitteren Erfahrungen. Ich musste ja auch schon mit 16 Jahren die Rolle des Vaters übernehmen."

Wollen Sie mit Ihren Filmen vor allem das internationale Publikum ansprechen?
"Meine Absicht ist es, der ganzen Welt die wunderbaren Menschen in meinem Land zu zeigen, sie auf die katastrophale Lage meines Volkes aufmerksam zu machen und womöglich die Situation unserer Kinder zu verbessern. Aber natürlich möchte ich meine Geschichten in erster Linie meinen eigenen Leuten erzählen. Die wünschen sich solche Filme, aber leider können nur wenige bei uns diese Filme überhaupt sehen, denn in Kurdistan gibt es für 40 Millionen Menschen nur 10 Kinos und kaum Abspielmöglichkeiten für DVD oder Video. Es wäre gut, wenn wir bald bessere Produktionsbedingungen und mehr Kinos hätten, denn wir haben so viele Geschichten, so viele Themen, die die Menschen auf der ganzen Welt interessieren. Allein dieser Film wurde bis jetzt in 22 Ländern gezeigt und hat bereits 16 Preise gewonnen Hoffen wir, dass wir es durch diesen und andere Filme, die jetzt in Kurdistan gedreht werden schaffen, in Zukunft nicht nur Low- oder No Budget-, sondern auch technisch anspruchsvollere Filme drehen zu können."

Mit Bahman Ghobadi sprach Uta Beth

 

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