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Ausgabe 118-2/2009

AFTERSCHOOL

Produktion: Borderline Films; USA 2008 – Drehbuch und Regie: Antonio Campos – Kamera: Jody Lee Lipes Schnitt: Antonio Campos – Musik: Rakotondrabe Gaël – Darsteller: Ezra Miller (Robert), Jeremy White (Dave), Emory Cohen (Trevor), Michael Stuhlbarg (Mr. Burke), Addison Timlin (Amy) u. a. – Länge: 106 Min. – Farbe Weltvertrieb: The Coproduction Office, Paris, Fax: +33 1 56026001, e-mail: info@coproductionoffice.eu empfohlen ab 16 J.

Im Film des erst 24-jährigen New Yorker Regisseurs Antonio Campos geht es um Sex, Drogen, Pornografie und verschiedene Formen von Gewalt, vor allem aber um den Schüler Robert, sein Coming of Age in einem Internat für die Elite des Landes an der Ostküste der USA. Die Eltern sind reich und selbst am Telefon abwesend, die Ordnung wird durch die tägliche Verabreichung von Psychopharmaka von der Schulverwaltung sichergestellt. Vieles von dem, was Robert nach der Schule lernt, sieht er in den Medien und insbesondere im Internet, beispielsweise ein Video, in dem ein hinter der Kamera stehender Mann seine Macht gegenüber einer Frau im sexuellen Kontext ausspielt, sie würgt und ihre Verunsicherung, Unterwerfung und Angst filmt. Robert wird dieses Verhalten ohne böse Absichten später ebenfalls bei einer Mitschülerin ausprobieren, die sich für ihn interessiert, zumal der Junge etwas anders als die anderen wirkt, schüchtern und ängstlich ist und doch sehr genau beobachtet, was um ihn herum und damit auch im Internet passiert.

Robert besucht auch einen Filmkurs, in der die medial bestens ausgestatteten Schüler eigene Filme drehen können. Einige wollen einen Horrorfilm machen, andere lieber gleich einen Porno. Robert jedoch stellt seine Kamera in den leeren Schulflur, experimentiert mit dem Licht und übt in aller Ruhe mehrmals einen sauberen Kameraschwenk. Auf diese Weise erfasst seine Kamera in der Totale zufällig, wie zwei in der Schule besonders beliebte Schülerinnen sich stöhnend und blutend aus einem Klassenzimmer schleppen. Fast könnte man denken, hier werde gerade ein Krimi gedreht, doch als sich Robert dem Geschehen nähert, während seine Kamera weiterläuft, er den Kopf des einen, stark aus dem Mund blutenden Mädchens in den Schoß nimmt und ihr den Mund zuhält, ahnt man, dass die später noch aus einer anderen Perspektive wiederholte Szene doch nicht gespielt war. Die Schwestern starben an Rattengift, das einem Drogencocktail beigemischt war, und die Schulleitung wusste von ihrem regelmäßigen Drogenkonsum, wollte aber kein Aufsehen ihrer einflussreichen Eltern wegen erregen. Als der einzige Zeuge ihres Todes wird Robert damit beauftragt, ein Gedenkvideo der beiden Schwestern anzufertigen. Weil seine Interviews die Betroffenheit und Trauer der anderen als Farce entlarven, lässt die Schulleitung das Material neu schneiden und mit einem rührseligen Soundtrack unterlegen, was – gerade weil die Zuschauer bereits die andere Version kennen – in ihrer Verlogenheit kaum noch zu überbieten ist.

Ein Film sagt umso mehr über die Realität aus, wenn er das Geschehen nicht nur kunstvoll abbildet, sondern auch die gewohnte Perspektive, die eingeschliffenen Sichtweisen und Sehgewohnheiten verändert. Campos macht das in künstlerisch radikaler Weise. Sein Film im CS-Format ist stilistisch durchkomponiert und zugleich sehr eigenwillig. Oft bleibt das ganze Bild unscharf, bis sich die Figuren langsam in den Schärfebereich hinein bewegen, die Köpfe sind häufig angeschnitten, manchmal sind die Figuren nur am Bildrand zu sehen, erst im Fortgang der Szene nehmen weitere Figuren den leeren Bildraum ein, sorgen erst dann für eine ausgeglichene Bildkomposition. Die Kamera bleibt beobachtend distanziert wie Robert selbst, entspricht aber zugleich seiner subjektiven Wahrnehmung, etwa wenn zwei Mädchen im Minirock "kopflos" die Treppen einer Unterführung hinabgehen und in einer starren Kameraeinstellung nur ihre nackten Beine zu sehen sind. Dieser Blick aufs "Wesentliche" ist medial eingeübt, die Personen selbst werden dabei zur unwichtigen Nebensache. Gewaltvideos auf Handys weisen eine ähnliche Distanz zu den Opfern auf, sie schließt den direkten Kontakt mit den Personen oder gar ein Eingreifen in die Abläufe aus. In diesem Film ist nichts wie es zunächst scheint, die Regeln des filmischen Erzählens werden bewusst gebrochen, die Bilder sind immer mehrdeutig, selbst der Ton ist nicht eindeutig klassifizierbar, so dass das Stöhnen beim Sexualakt ähnlich klingt wie beim Sterben. Vor allem die beiden in voller Länge in den Film eingebauten Gedenkvideos, das von Robert und das offizielle der Schulleitung, machen den Unterschied zwischen unreflektierten Erwartungshaltungen und sperrigem Erkenntniswert deutlich. Robert montierte nicht die gefälligen Statements der Personen, sondern ihre Zwischenbemerkungen, ihr Zögern, ihre Art und Weise, wie sie die Schwestern einschätzten oder ihren Drogenkonsum und ihren Tod zu verdrängen suchen. Dieser Vergleich ist zugleich Medienerziehung ohne pädagogischen Zeigefinger. Campos' Film ist nicht einfach, er fordert vom Zuschauer viel Geduld und die Bereitschaft zum Nachdenken, aber er wendet sich dabei entschieden gegen jede Form der medialen Verdummung durch simple Reiz-Reaktionsschemata und vermittelt einen differenzierteren Blick darauf, was es heißt, als Jugendlicher in einer medialen Welt aufzuwachsen, in der die Medien und auch die Überwachungsmedien omnipräsent geworden sind.

Holger Twele

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 140-2/2014 - Interview - Stoffe entwickeln, Regisseure wählen, bei der Besetzung mitreden und Geld einsammeln
KJK 118-2/2009 - Interview - "Jeder Film ist ein eigenständiges Kunstwerk und erfordert ein eigenes Gefühl"

 

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