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Ausgabe 45-1/1991

ARIELLE – DIE MEERJUNGFRAU

THE LITTLE MERMAID

Produktion: Walt Disney Pictures / Silver Screen Partners IV, USA 1989 – Regie und Drehbuch: John Musker, Ron Clements, frei nach dem Märchen von Hans Christian Andersen – Zeichentrickkamera: John Cunningham, Ed Austin, Errol Aubry, John Aardal, B. Hill, Ron Jackson, Dave Link, Roncie Hantke, Chuck Warren, Ch. Beck – Leitende Phasenzeichner: Mark Henn, Glen Keane, Duncan Majoribanks, Ruben Aquino, Andreas Deja, Matthew O. Callaghan – Musik: Alan Menken – Lieder: Howard Ashman, Alan Menken – Deutsche Sprecher der Figuren: Arielle – Dorette Hugo (Text), Ute Lemper (Gesang); Eric – Frank Schaff-Langhans; Sebastian – Joachim Kemmer; Fabius – Tobias Thoma; Triton – Edgar Ott; Grimsby – Helmut Heyne; Carlotta – Hannelore Schüler; Flotsam & Jetsam – Lutz Riedel; Ursula – Beate Hasenau; Koch Louis – Victor von Halem; Seemöwe Scuttle – Jürgen Kluckert; Seepferdchen – Santiago Ziesmer – Laufzeit: ca. 75 Minuten – Farbe – FSK: ab 6, ffr. – Verleih: Warner Brothers (35mm) – Altersempfehlung: ab 6 J.

Hochstimmung herrscht am Meeresboden. Meereskönig Tritons siebente Tochter soll als Sängerin debütieren und damit in die Gesellschaft eingeführt werden. Taschenkrebs Sebastian, ein großer Komponist und Angsthase, leitet die Veranstaltung, die hervorragend beginnt und damit endet, dass der Teenager Arielle – nicht zur Stelle ist. Die Meerjungfrau hat nämlich wieder einmal taggeträumt und mit dem ängstlichen Fisch Fabius ein Wrack nach Menschen-Tand durchsucht, um die riesige Sammlung, die sie in einer Unterwasserhöhle angelegt hat, zu vergrößern. Auf der Meeresoberfläche ist indessen ein Schiff mit Prinz Eric unterwegs, der seinen achtzehnten Geburtstag feiert. (Wen's interessiert: Beim ersten Schwenk über die Schiffsmannschaft sieht man die karikierten Gesichter eines Teils der Animatoren und Mitarbeiter an diesem, dem 28. abendfüllenden Spielfilm der Disney-Studios.)

Papa Triton ist wütend. Sein Töchterlein will jedoch nach wie vor mehr über die Menschen wissen. Als Erics Schiff in Seenot gerät, ist Arielle zur Stelle, um Eric zu retten. Arielles Stimme bleibt ihm unauslöschlich in Erinnerung. Er hat sich so unsterblich in sie verliebt, wie sie sich in ihn. Da reißt Triton der Geduldsfaden. Eine Verbindung mit Menschen? Niemals. In einem gigantischen Rundschlag macht er Arielles Sammlung zunichte, aber ihre Liebe ist damit nicht zerstört. Im Gegenteil: Sie träumt davon, wie ein Mensch zu sein. Die Muränen Flotsam und Jetsam vermelden dies ihrer Herrin, der fetten Seehexe Ursula. Die lockt Arielle in ihre Höhle, indem sie ihr anbietet, sie in einen Menschen zu verwandeln. Der Preis: Sie will dafür Arielles Stimme haben und schließlich Arielle mit Haut und Haaren für ihren "Heimgarten" verlorener Seelen, wenn sie den Prinzen nicht bis zum dritten Sonnenuntergang für sich gewonnen und geküsst hat.

Als stummes Mädchen am Strand wird Arielle von Eric gefunden. Sie könnte ihm zwar gefallen, aber zur Perfektion fehlt die silberhelle Stimme. Taschenkrebs Sebastian, Fisch Fabius, ja sogar Erics Adjutant Grimsby und Carlotta, die Haus-Perle des Schlosses, wollen alles zu einem guten Ende bringen. Als Ursula merkt, dass trotz Intervention von Flotsam und Jetsam ihre Pläne durch die Liebe vereitelt werden könnten, verwandelt sie sich und bedient sich Arielles Stimme. Der Prinz fällt auf die List herein. Alles wird zur Hochzeit vorbereitet.

Arielle erreicht kurz vor Sonnenuntergang das Hochzeitsschiff, nachdem sie Ursula auf die Schliche gekommen ist. Eric erkennt die Wahrheit. Die Lippen nähern sich einander zum Kuss ... Tja, und dann ist es doch noch ein Weilchen bis zum Happy End. Ursula scheint den Sieg davongetragen zu haben, bis in einem fulminanten Finale alles das märchenhaft gute Ende findet.

Mit dieser freien Bearbeitung von Hans Christian Andersens Märchen von der "Kleinen Meerjungfrau" haben sich die Disney-Studios einen großen Gefallen getan. Sie haben nämlich einen Film produziert, der einerseits in der Tradition der abendfüllenden Trickfilm-Märchen aus dem Hause Disney steht, der andererseits aber auch einen in den Figuren moderneren Anstrich hat. Resultat ist ein hübsches Film-Musical, das seine Geschichte straff erzählt, sich bewusst an die Grenze zum Niedlichen begibt, aber stets darauf bedacht ist, Sentimentalität nicht zuckersüß triefend zu machen, sondern stattdessen ironisch zu verfremden und humoristisch aufzumotzen.

Wie der jamaikanische Taschenkrebs Sebastian (der Name entstammt einem jamaikanischen Buch und passt nur zufällig auch zur Komponistentätigkeit; eine Anspielung auf J. S. Bach war nicht beabsichtigt) etwa aus allem eine Musiknummer macht und für Stimmungsmusik unter Einbeziehung aller möglichen Tiere sorgt, das ist überaus komisch. Was leicht hätte peinlich werden können, dass nämlich Prinz und Meeresprinzessin bei einer Kahnfahrt eine Weile brauchen, ehe sie sich einen Kuss geben wollen (was die Muränen verhindern), wird witzig hochgestylt, indem Sebastians Sponti-Band in flotten Rhythmen immer wieder auffordert, er solle das Mädchen doch jetzt endlich mal küssen. Die Musik der Broadway-Musiker Ashman und Menken ("Little Shop of Horrors") ist flott und rhythmisch, und sie bringt etwas für die Erzählung. Die Figuren sind gut ausgearbeitet. Die menschlichen Figuren, die im Trickfilm ja besonders schwierig zu gestalten sind, erweisen sich als aktiver als so manche ihrer Vorgänger. Die Handlung läuft in verschiedenen Erzählsträngen auf ihr Happy End zu. Der Spannungsbogen baut sich auf und findet eine rasante Auflösung. Man hat am Ende das Gefühl, ganz gut unterhalten worden zu sein.

Ungewohnt vielleicht die Darstellung der Folgen von Brutalität. Als die Muränen ihr Ende finden, bröseln ihre Überreste vor Ursula auf den Meeresboden. Auch deren Ende wird nicht unbedingt verniedlicht. Deshalb wird die Anleihe beim Warner Brothers-Cartoon in Gestalt des hektischen Koches Louis auch etwas problematisch, wenn dem die Zähne aus dem Gesicht fallen. Denn als der Sieg über Ursula endgültig ist, hat der Koch auch seine Zähne für immer los, weil er ja eigentlich in einer "realistischen" Atmosphäre nicht wie eine Trickfilmfigur alles unbeschadet überstehen kann.

Die Besucherzahlen in den USA machen "Arielle" schon jetzt zum erfolgreichsten erstaufgeführten Zeichentrickfilm aller Zeiten, der sogar den Erfolg von "Oliver & Co." bei weitem übertraf. Er ist also irgendwo ein Instant-Klassiker. Das Wörtchen "Instant" sollte aber nun nicht einen faden Beigeschmack hinterlassen. "Arielle" ist kein Instant Food für die Augen. Na schön, vieles aus dem Film verblasst in der Erinnerung schon bald wieder. Aber man geht beschwingt aus dem Kino und hat seine Freude gehabt. Auch als Erwachsener. Vor allem auch deshalb, weil anders als etwa bei vielen deutschen Kinderproduktionen das jugendliche Publikum nicht wie Doofis behandelt wird, denen man durch ständige Übertreibung auch noch die hinterletzte Pointe so platt walzen muss, dass sie garantiert nicht mehr lustig wirkt.

"Arielle" ist ein Film, der einen in seinen Märchen-Bann zieht, wenn man sich erst einmal auf ihn einlässt und sich seiner Erzählung hingibt. Er transportiert ein Märchen von einst in die heutige Zeit und hat damit möglicherweise das nicht zu verachtende Kunststück geschafft, bei allen Modernismen ein seinerseits zeitloses Werk zu werden. Nicht zu unterschätzen ist auch, dass sich die Heldin dieses Zeichentrickfilms nicht einfach als Spielball der Mächte sieht, sondern aktiv ihre eigenen Träume zu verwirklichen sucht. Bei allem Märchendekor ist sie eine sehr heutige Figur, eine Sechzehnjährige, die versucht, unabhängig von den Vorstellungen der Eltern eigene Wege zu gehen.

Während die Geschichte von Arielle abläuft, vergisst man übrigens immer wieder einmal, dass man in einem Zeichentrickfilm sitzt, weil sie einfach gut erzählt ist. Aber auch die Technik trägt zum "Realismus" bei. Wer genau hinsieht, der wird die Figuren nicht mehr gar so stark vom Hintergrund abgegrenzt finden. Handlungsebene und Hintergrund fügen sich noch besser als früher zusammen. Einer der Gründe dafür ist natürlich die Hilfe des Computers bei der Animation unbelebter Gegenstände. Mindestens so wichtig ist aber ein kleiner Kunstgriff, der wohl auch für zukünftige Disney-Filme beibehalten wird: Die Konturen der Figuren sind in der Regel nicht mehr mit schwarzer Tusche gezeichnet, sondern in einem grauen Farbton, der den Betrachter schon mal vergessen lässt, dass hier alles Bild um Bild gezeichnet worden ist.

Wolfgang J. Fuchs

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 46-1/1991 - Interview - "Wir möchten, dass unsere Filme lange Zeit zeitlos wirken"
KJK 45-1/1991 - Interview - "Hat man die Technik erst einmal erlernt, entdeckt man, dass die eigentliche Herausforderung das Schauspielern der Figur ist"

 

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