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Ausgabe 54-2/1993

AVIYAS SOMMER

HAKAYITZ SHEL AVIYA

Produktion: H.S.A. Ltd., Israel 1988 – Regie: Eli Cohen – Buch: Gila Almagor, Haim Bouzaglo, Eli Cohen (nach dem Roman von Gila Almagor) – Kamera: David Gurfinkel – Schnitt: Tova Neeman – Musik: Shem-Tov Levi – Darsteller: Gila Almagor (Henya), Kaipo Cohen (Aviya), Eli Cohen (Herr Gantz), Avitel Dicker (Maya) u. a. – Länge: 95 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – Vertrieb: Matthias-Film GmbH (16mm und 35mm) – Verleih: KJF Medienverleih (16mm) – Altersempfehlung: ab 14 J.

Israelische Filme finden nur selten den Weg in unsere Kinos. Sie teilen damit das Schicksal vieler anderer nationaler Kinematographien aus den Ländern Afrikas, Asiens oder der arabischen Welt. Dank des Engagements von Matthias-Film und dem Kinder- und Jugendfilmzentrum in Remscheid steht nach "Nightmovie" ein weiterer israelischer Film in der Bundesrepublik zur Verfügung, der einen einzigartigen Blick in die israelische Gesellschaft gewährt. Angesichts weltweiter Kriege und Verbrechen gewinnt "Aviyas Sommer" zugleich universelle Bedeutung, indem er das Schicksal von Kindern unverblümt in den Blickpunkt rückt.

"Aviyas Sommer" spielt im Jahre 1951. Der Staat Israel ist gegründet. Die zehnjährige Aviya lebt in einem Kinderheim, weit weg von ihrer Mutter Henya. Nichts in ihrem Leben ist stimmig, schon gar nicht ihr Name, der übersetzt "ihr Vater" bedeutet. Von der Mutter weiß sie, dass der Vater im polnischen Widerstand umgekommen ist, bevor sie geboren wurde. Dennoch scheint ihr der Tote realer als die Mutter, die in immer kürzeren Abständen in einer Anstalt vor ihren KZ-Albträumen geschützt werden muss. In diesem Sommer nimmt Henya die Tochter zu sich nach Hause, in ein kleines Dorf nahe Tel Aviv, wo sie als Wäscherin ihr Geld verdient. Die Nachbarn nennen sie die "verrückte Partisanin". Ebenso wie Henya ist auch Aviya in der neuen Heimat eine Außenseiterin.

Aviya ist bildhübsch. Da sie aus dem Kinderheim aber Läuse mitbrachte, hat Henya ihr den Kopf kahl geschoren, ganz so, wie sie es selbst im Vernichtungslager erlebt hat. Aviya fühlt sich entstellt und trägt jetzt ein Kopftuch. Neugierig und voller Phantasie geht sie dennoch ihre eigenen Wege, um in der Dorfgemeinschaft ihren Platz zu finden. Trotzig kämpft sie darum, bei den Ballettstunden, die Maya Abramson anderen Kindern gibt, einfach dabei sein zu können. Doch die Ballettlehrerin weist sie immer wieder ab, demütigt sie schließlich wegen ihrer Kleidung vor den Augen der anderen Kinder, bis Aviya einen Stein nach ihr wirft und sie am Auge verletzt. Aber selbst in dieser Situation beweist Aviya Stärke und besucht Maya im Krankenhaus. Bei ihrer Mutter handelt sie sich für den Vorfall nur eine Ohrfeige ein – den eigentlichen Konflikt kann sie ihr nicht erzählen. Voll ungewollter Verletzungen, aber auch voller Zärtlichkeit ist das Verhältnis zwischen Henya und Aviya. Mit Entsetzen wird Aviya ihr Leben lang an ihren zehnten Geburtstag zurückdenken: Liebevoll ist der Kaffeetisch gedeckt, das Zimmer geschmückt. Doch kein Kind findet sich ein. Schließlich bittet Henya Nachbarn und Dorfbewohner, die zufällig auf der Straße vorbeikommen, Aviyas Geburtstag mitzufeiern. Am Kaffeetisch redet sie ununterbrochen, um das Schweigen zu brechen, und erreicht doch nur, dass alle wieder gehen. In solchen Situationen flüchtet sich Aviya zu ihrem geheimsten Schatz, den Fotos ihres Vaters, die sie ihrer Mutter weggenommen hat. Auf den Fotos sieht sie einen schönen jungen Mann – unmöglich, dass er schon tot sein soll. Als sie den neuen Nachbarn, Herrn Gantz, kennen lernt, der dem Vater auf den Fotos verblüffend ähnelt, wächst in ihr die Vision, ihren Vater wiedergefunden zu haben. Obwohl Herr Gantz eine eigene Familie hat, steigert sich Aviya immer mehr in ihren Wunschtraum und ruft Aufregung und Missverständnisse hervor. Nichts lässt sie unversucht, um eine vollständige Familie zu bekommen und in der Dorfgemeinschaft ihren Platz zu finden. Aber das ist nur eine von vielen Geschichten, die Aviya in diesem Sommer erlebt ...

"Aviyas Sommer" beruht auf Kindheitserinnerungen der israelischen Schauspielerin Gila Almagor, die im Film gleich in zwei Rollen mitwirkt: Sie spielt Aviyas Mutter Henya, und sie spricht die Stimme der erwachsenen Aviya, die sich an ihre Kindheit im Sommer des Jahres 1951 erinnert. In dieser Doppelrolle gelingt es Gila Almagor, die (eigene) Mutter und das (vergangene) kindliche Ich darzustellen und eine Nähe zwischen Mutter und Tochter zu schaffen, die dem Film eine einzigartige Dichte verleiht. Die Lebensgeschichten der beteiligten Personen werden nur in Bruchstücken – episodenhaft aneinandergereiht – erzählt, wobei das Spannungsverhältnis zwischen Mutter und Tochter tragendes Motiv ist.

Gila Almagor in der Rolle der Henya ist eine Idealbesetzung. Warmherzig und humorvoll, dann wieder schroff und abweisend, zieht sie den Zuschauer in ihren Bann und reißt ihn mit in ihre schreckliche Welt der Erinnerung. Für ihre schauspielerische Leistung ist sie 1989 mit dem 'Silbernen Bären' in Berlin ausgezeichnet worden. Auch Kaipo Cohen in der Rolle der jungen Aviya ist ein Glücksgriff. Nicht nur in der Auswahl der Darsteller, auch in der Zusammenstellung der Farben ist der Film bemerkenswert. Helle, leuchtende Farben des Sommers kontrastieren mit dem Dunkel und Grau der Räume, in die sich Henya während ihrer quälenden Anfälle zurückzieht. Das psychische Leid kann auch der mediterrane Sommer nicht verdecken. Die Schönheit ist gebrochen.

"Aviyas Sommer" gewährt einen ganz neuen Blick in das Innenleben der israelischen Gesellschaft. Im Sommer 1951 richteten die Menschen mit verzweifelter Energie den Blick von der Vergangenheit in die Zukunft: auf den Aufbau des neuen Staates. Der Neuanfang konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Menschen zutiefst traumatisiert waren von den Erfahrungen des Holocaust, dem sie gerade entkommen waren. Im Spannungsverhältnis von Mutter und Tochter lässt der Film die psychologischen Verheerungen spürbar werden, die nicht nur die Holocaust-Opfer selbst erfuhren, sondern die sie als Trauma an ihre eigenen Kinder bis in die Gegenwart hinein weitergeben. "Aviyas Sommer" greift diese Ambivalenz auf und rührt gleichzeitig an einem Tabu, indem er die Ausgrenzung der Holocaust-Überlebenden innerhalb der israelischen Gesellschaft thematisiert, deren An- und Ausfälle der Normalität den Boden entzogen. Bis in die 80er-Jahre hinein war die psychische Binnenwelt der israelischen Gesellschaft ein lange verdrängtes Problem und spielte auch in der israelischen Kinematographie keine Rolle. Erst der zweiten und dritten Generation der Überlebenden des Faschismus, die sich in Filmen wie "Aviyas Sommer" oder "Wegen dieses Krieges" (von Orna Ben-Dor Niv) zu Wort melden, gelingt es, dieses Tabu zu brechen. Mit dem genauen Blick, mit dem Kinderaugen die Welt betrachten, gibt "Aviyas Sommer" Zeugnis von der kollektiven Verdrängung, die bis in die Gegenwart Spuren in der israelischen Gesellschaft hinterlassen hat.

Irene Schoor

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 54-2/1993 - Interview - "Die Leute wollen uns immer erzählen, wie wunderbar es ist, ein Kind zu sein"

 

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