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Ausgabe 81-1/2000

DIE INSEL IN DER VOGELSTRASSE

OEN I FUGLEGADEN / THE ISLAND ON BIRD STREET

Produktion: M & M Productions A/S, Connexion Film Vertriebs GmbH, April Productions Ltd., mit Förderung durch Det Danske Filminstitut, Filmstiftung NRW, Nordisk Film & TV Fond, Eurimages; Dänemark / Großbritannien / Deutschland 1996 – Regie: Søren Kragh-Jacobsen – Buch: John Goldsmith, Tony Grisoni, nach Uri Orlevs gleichnamigem Roman – Kamera: Ian Wilson – Schnitt: David Martin – Musik: Zbigniew Preisner – Darsteller: Jordan Kiziuk (Alex), Patrick Bergin (Stefan), Jack Warden (Boruch), James Bolam (Dr. Studjinsky), Stefan Sauk (Goehler), Simon Gregor (Henryk), Lee Ross (Freddy), Sian Nicola Liquorish (Stasya), Suzanna Hamilton (Stasyas Mutter) – Länge: 107 Min. – Farbe – Adresse: Det Danske Filminstitut, Vognmagergade 10, DK-1120 Kopenhagen K., Telefon 0045-33743400, Fax 0045-33743599 – Altersempfehlung: ab 12 J.

Nach dem Einmarsch der Deutschen in Polen 1939, mit dem der Zweiten Weltkrieg beginnt, werden alle Juden in einem Ghetto in Warschau untergebracht. Auch Alex kommt mit seinem Vater und seinem Onkel Boruch dorthin; Alex' Mutter ist bereits gestorben. Im Ghetto scheint das Leben fast normal weiterzugehen. Es gibt Arbeit und – zwar nicht regelmäßig – Essen. Doch mit jeder Razzia der Nazis wächst die Angst. Alte, Kranke und Gebrechliche werden als Erste abgeholt und in die Konzentrationslager verfrachtet. Eines Tages wird das gesamte Ghetto geräumt. Onkel und Vater versuchen Alex zu retten, indem sie einen Tumult inszenieren und die Aufmerksamkeit des Kommandos auf sich ziehen. Währenddessen kann Alex entkommen. Der Onkel bezahlt diese Tat mit dem Leben, der Vater wird abgeführt. In seinem Versteck in der Vogelstraße erinnert sich Alex an dessen letzten Worte: "Dein Vater wird dich holen. Es mag eine Weile dauern, doch er wird kommen. Verliere nie den Mut."

Nur einigen Menschen ist es gelungen, den Deportationen zu entgehen. Hin und wieder sieht oder hört Alex Lebenszeichen anderer Juden, aber jeder ist mit seinem eigenen Überlebenskampf beschäftigt. In der Einsamkeit hat er nur durch seine weiße Maus namens "Schnee" etwas Gesellschaft. Nach und nach lernt Alex in dieser Umgebung zu überleben, ähnlich wie der Held in Daniel Defoes berühmtem Roman "Robinson Crusoe", seinem Lieblingsbuch. Er hat sich im Dachstuhl eines Hauses ein Versteck gebaut, das durch eine Strickleiter zu erreichen ist. Von hier oben kann er zum ersten Mal das Leben jenseits der Ghettomauern beobachten. Er schaut polnischen Kindern beim Spielen zu und entdeckt dabei auch ein Mädchen, das im Haus gegenüber wohnt. Bei seinen Streifzügen durch das Ghetto stößt Alex auf Freddy und Henryk, zwei Widerstandskämpfer, die er für kurze Zeit unterbringen kann. Henryk ist schwer krank, so dass Alex das Ghetto durch einen geheimen Tunnel verlassen muss, um einen Arzt aufzutreiben, der sich um den Verletzten kümmern soll. Bei dieser Mission begegnet er dem Mädchen Stasya, das er schon so lange vom Sehen kennt. Bei Stasya erlebt Alex für einen kurzen Augenblick, wie es ist, wenn ein Kind eine Familie hat. Die elterliche Fürsorge schließt ihn mit ein, aber als er vor der Entscheidung steht, mit Stasyas Familie die Stadt zu verlassen, lehnt er ab – trotz der großen Verlockung, Einsamkeit, Angst und Kälte hinter sich zu lassen. Ebenso lehnt er das Angebot der Widerstandskämpfer ab, mit ihnen zu fliehen. Das Versprechen des Vaters hält ihn auf seiner Insel in der Vogelstraße zurück, wo er das faschistische Inferno überlebt. Søren Kragh-Jacobsens Film basiert auf dem Buch von Uri Orlev, der darin seine eigene Geschichte niedergeschrieben hat. Orlev, 1931 in Warschau geboren, gehört heute zu den bekanntesten Kinderbuchautoren in Israel. Er lebte vier Jahre im Ghetto, 1943 versteckte eine Tante den Jungen im polnischen Teil der Stadt. Die Intentionen des Autors, dass bei all der Menschen vernichtenden Grausamkeit ein Kind sich eine eigene Abenteuerwelt schafft und kraft seiner Fantasie überlebt, hat Søren Kragh-Jacobsen mit großer Sensibilität und tiefem Humanismus in Bildern ausgedrückt, die im Kopf haften bleiben. Mit Jordan Kiziuk fand er einen Jungen, in dessen Gesicht sich die verlorene Kindheit spiegelt. Der Film vermittelt zudem einprägsam das Bild von einem Ghetto, in dem verzweifelte Menschen alles Mögliche versuchen zu überleben. Sie schrecken dabei auch nicht vor Diebstahl und Mord zurück.

Das Porträt des Zwölfjährigen ist überzeugend und genau gezeichnet. In der Darstellung seines Überlebenskampfes bleibt die Kamera dem Jungen dicht auf der Spur, immer wird die Geschichte aus seiner Sicht erzählt. Wenn Alex zum Beispiel mit dem Fernglas aus seinem Versteck auf eine Straße jenseits des Ghettos blickt, wo er das "normale" Leben mit spielenden Kindern beobachtet, ist diese Einstellung eine Metapher für seine Sehnsucht zu fliehen und den Schrecken hinter sich zu lassen.

Søren Kragh-Jacobsen versteht es in hervorragender Weise mit Kindern zu arbeiten. Das hat er bei seinen früheren Filmen ("Gummi Tarzan", 1981; "Goldregen", 1986; "Emmas Schatten", 1988) mehrfach bewiesen. Auch in dem Film "Die Insel in der Vogelstraße" zeigt sich wieder seine Fähigkeit, mit einem Kind umzugehen, z. B. in den Szenen, in denen Jordan Kiziuk, die zwölfjährige Hauptperson, allein vor der Kamera agiert, ohne dass Erwachsene die Intimität der Bilder stören. Dabei entstehen besonders intensive Augenblicke, Bilder von poetischer Kraft, und nicht zuletzt dadurch erhielt der Film bei der Berlinale 1997 von der internationalen Jury eine lobende Erwähnung. Entscheidend bei der Auswahl der Kinderdarsteller ist für Søren Kragh-Jacobsen, eine Person zu finden, die seinen Vorstellungen entspricht und die in der Lage ist, überzeugend Gefühle auszudrücken.

"Die Insel in der Vogelstraße" zählt neben Filmen wie "Das Heimweh des Walerian Wrobel" (Rolf Schübel, Deutschland 1990), "Die Jungen von St. Petri" (Søren Kragh Jacobsen, Dänemark 1991), "Stern ohne Himmel" (Ottokar Runze, BRD 1980) und "Das Tagebuch der Anne Frank" (George Stevens, USA 1959) zu den beeindruckenden Filmbeispielen über Kindheit und Jugend in der Nazi-Diktatur.

Hans Strobel

 

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