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Ausgabe 81-1/2000

"Ich nutze den Film als Mittel, um der Gesellschaft zu erzählen, dass etwas nicht stimmt"

Gespräch mit Christer Engberg

(Interview zum Film LUST AUFS LEBEN)

In der Sektion Kinder- und Jugendfilme der Nordischen Filmtage Lübeck 1999 lief Christer Engbergs zweiter Spielfilm "Lust aufs Leben". Wie in seinem Debütfilm "Wild Angel", der in Lübeck 1997 den Kinderfilmpreis der Nordischen Filminstitute erhielt, arbeitete er auch jetzt wieder mit Jugendlichen des von ihm geleiteten sozialpädagogischen Projektes zusammen. Christer Engberg (Jahrgang 1957) wuchs in der nordschwedischen Stadt Luleå auf und arbeitete in verschiedenen Berufen, bis er vertretungsweise die Stelle eines Musiklehrers übernahm. Sein Engagement außerhalb der Schule führte 1991 zur Gründung von "Konstskolan Rosteriet" (Kunstschule Rösterei), einer Einrichtung für Jugendliche, die in der Regelschule nicht zurechtkommen. Der Film "Wild Angel" entstand dort 1996/97 im Rahmen einer Theaterinszenierung. Der neue, autobiografisch gefärbte Film "Lust aufs Leben" hingegen führt nach Luleå ins Jahr 1975 und erzählt von einer Gruppe Mädchen und Jungen, die eine Rockband gegründet haben. Sie werden nach Narvik im benachbarten Norwegen eingeladen, um am 1. Mai dort zu spielen. Die Reise wird zum konfliktreichen Abenteuer.

Mit Christer Engberg sprachen Hans Strobel und Erhard Bultze nach der Vorführung des Films "Lust aufs Leben" in Lübeck im November 1999.

KJK: Der Film führt uns in eine Stadt in Nord-Schweden, Luleå 1975. Wo waren Sie damals, wie sah Ihr Leben aus?
Christer Engberg: "Ich arbeitete in einem Stahlwerk. Ich spielte Rock 'n Roll. Und in einer Nacht verlor ich meinen Job, weil das Stahlwerk geschlossen wurde. Plötzlich fing unsere Musik an, auf das Ereignis zu reagieren. Ein bisschen ist es meine Geschichte und es ist außerdem die Geschichte über eine Stadt, der man die Zukunft wegnimmt."

Sie wurden Musiklehrer, aber das war nur der erste Schritt, und dann gründeten Sie eine kulturpädagogische Schule. Welche Art von Schule ist das?
"Ich gründete eine Schule für Jugendliche, die aus der Schule geflogen waren, Straßenkinder, die niemand will. Und ich setze das Theaterspielen ein, um sie selbstbewusst zu machen. Die Idee kam von einem aus der Band, in der ich spielte. Wir spielten damals auch Theater, politisches Theater, und das half mir Selbstbewusstsein zu entwickeln, und als ich in der Schule zu arbeiten begann, erinnerte ich mich, wie es bei mir gewesen war. Am Anfang wollten sie nicht mitmachen. Sie hassten es zu spielen, aber ich konnte ganz schön grob sein und zwang sie dazu. Denn es ist immer so: Wenn man nicht gesehen wird, macht man etwas Schlimmes, etwas echt Böses aus sich, und dann sehen einen die Leute. Aber ich versuchte, sie auf andere Weise sichtbar zu machen, indem ich sie auf die Bühne stellte, und es war das erste Mal, dass die Leute ihnen applaudierten. Anfangs war es Amateurtheater, dann wurde es immer professioneller. Wir tourten in England und spielten in einem Schauspieltheater in Stockholm."

Wie viele Jugendliche sind in Ihrer Schule? Und wie wird die Schule finanziert?
"Im Lauf der Jahre habe ich mit etwa 300 Kindern gearbeitet. Das wird vom Staat, von der Regierung finanziert, und es läuft immer noch. Ich bin noch Leiter der Schule. Aber ich arbeite jetzt immer mehr mit Film."

Sie haben bisher zwei Filme gemacht, die sehr stark eine sozialpädagogische Absicht hatten. Sie benutzen den Film sozusagen als Mittel?
"Ich nutze den Film als Mittel, um der Gesellschaft zu erzählen, dass etwas nicht stimmt. Ich glaube, ich würde nie 'Star Wars' drehen. Ich sehe mir 'Star Wars' gerne an, aber ich selbst möchte Geschichten machen, die den Menschen etwas über unsere Gesellschaft erzählen. Auf diese Weise setze ich heute den Film als Mittel ein."

Ist für Sie das Instrument Film ein intensiveres, wirksameres Mittel als Theater?
"Ja, denn man erreicht mehr Leute. Und Sie müssen bedenken, dass ich früher Pädagoge war und den Pädagogen in mir werde ich nicht los. Und deshalb wird es immer ein bisschen so sein."

Ein Einwand könnte allerdings sein: Da macht man aus schwierigen Kindern kleine Stars ...
"Sie sehen sich selbst nicht als Filmstars. Keines dieser Kinder möchte ein Filmstar sein, denn sie haben andere, schwerere Probleme. Für sich zu sorgen, lesen zu lernen zum Beispiel. Nein, sie sind keine Filmstars, sie sind Jugendliche, die etwas Besonderes gemacht haben."

Sie geben der Musik einen sehr großen Raum in dem neuen Film. Wenn einem die Musik gefällt, ist das sehr schön, wenn man sie aber nicht mag, könnte man den Eindruck haben, sie bekommt zu viel Gewicht.
"Vielleicht, aber für diese Band, für die Menschen damals war Musik das Wichtigste überhaupt. Ich meine, schauen Sie sich die jungen Leute heute an. Nehmen Sie ihnen die Musik weg und sie gehen zugrunde. Und das Gleiche war es für die jungen Leute damals. Ich bin mit Musik groß geworden. Sie ist also wirklich wichtig für mich und, tja, dann wird sie auch wichtig in meinem Film."

Welche Reaktionen gibt es bei Jugendlichen, 14-, 15-, 16-Jährigen?
"In Schweden mögen sie die Musik, weil die Texte wirklich – ja – politisch sind. Und das kommt wieder in Schweden. Das ist eine Auferstehung dieser alten Kampflieder und die jungen Leute sagen: Oh, das habt ihr wirklich geschrieben?"

Ist das Drehbuch ein Originalstoff? Wie weit haben die jungen Darsteller das auch verändert?
"Vor dem Drehen probe ich jede Szene wie beim Theater. Und wenn mir dann jemand sagt 'Das kann ich nicht sagen, das entspricht mir nicht, so rede ich nicht' ist das okay. Aber sie müssen mich überzeugen. Und manchmal machen sie spontane Sachen, die viel besser sind als das, was ich geschrieben habe. So ist es ein Geben und Nehmen. Aber ich muss ihnen Vorgaben machen."

Die Hauptrolle – der Junge "Affe" – war sehr gut besetzt, der Darsteller hat das glaubwürdig gespielt. Ist das einer aus der Gruppe, mit der Sie gearbeitet haben, und hat er sich für diese Figur entschieden?
"Die Filmfigur 'Affe' beruht auf meinem Freund, der 1982 wegen seines Drogenproblems starb. Er war das Genie in der Band und die Songs, die Affe singt, sind seine wirklichen Songs. Mattias, der den Affe spielt, hat das gleiche Problem. Er ist ein Genie, aber er macht sich selbst kaputt. Es war ganz natürlich für mich, dass ich zu ihm sagte: Du spielst meinen alten Freund, denn du bist ganz genau wie er. Mattias sagte zuerst: Nein, ich kann nicht. Wenn er dein Freund war und du ihn geliebt hast, kann ich ihn nicht spielen. Dann gab ich ihm seine beiden Songs und es hat ihm wirklich gefallen, diese Lieder zu singen. Sie singen übrigens alle mit ihren eigenen Stimmen."

Haben Sie je eine negative Reaktion von den jungen Leuten erhalten, die Sie für den Film ausgewählt hatten, sagten sie, nein, sie würden die Rolle nicht spielen?
"Nein, wirklich nicht. Sie hatten viele Fragen, denn das ist eine Zeit, über die sie nichts wissen.

Sind Sie noch Ihr Lehrer oder sind Sie Freunde?
"Ich bin ihr alter Lehrer. Und ich bin ihr Freund; sie können mich anrufen und das tun sie auch oft. Manchmal, wenn sie Probleme haben, wohnen sie bei mir. Ich würde sie nie im Stich lassen."

Zur Finanzierung: Wie hat sich so ein Projekt überhaupt auf die Beine stellen lassen? War es bei Ihrem ersten Film schwierig, das Geld dafür zu beschaffen?
"Ja, denn beim ersten Film hieß es: Niemand will einen Film über diese Kinder sehen. Und so ist die schwedische Filmindustrie: keine Gewalt? kein Sex? Wieso wollen Sie so einen Film machen. Aber dann gelang es mir, 3,5 Millionen Kronen von einer Ministerin, einer Freundin von mir, zu bekommen. Und, wissen Sie, wo Geld ist, kommt noch mehr Geld dazu. Dann sagte plötzlich eine Filmgesellschaft: Also, vielleicht ist es ja eine gute Idee, diese Filme zu machen."

Welche Ministerin war das?
"Das war Margot Valström, damals Kultusministerin von Schweden. Sie wollte wirklich ein Projekt wie dieses, um zu zeigen, dass junge Leute wichtig sind und dass wir Filme über die Gesellschaft machen können, richtige Filme, nicht nur Actionfilme."

Ihre beiden Filme "Wild Angels" und "Lust aufs Leben" sind Entwicklungsgeschichten. Gibt es eine Fortsetzung oder was ist Ihr nächstes Projekt?
"Ich habe das Drehbuch zu einem Film über zwei Behinderte beendet, die von der Gesellschaft in eine Wohnung gesteckt werden, weil man meint, das sei besser — von der Institution aus. Für manche Menschen ist das eine Katastrophe. Im Fernsehen sah ich eine Dokumentation über zwei Personen, die in so eine Wohnung gesteckt wurden. Sie waren seit drei Monaten nicht aus dieser Wohnung gekommen, weil sie sich vor der wirklichen Welt fürchteten. Ich möchte zeigen, wie diese Behinderten auf die sogenannte normale Gesellschaft schauen, die nicht normal ist, wenn man sie durch ihre Augen betrachtet. Einen Spielfilm möchte ich deshalb machen, weil man damit mehr Leute erreicht. Und ich kann eine Geschichte erzählen, die weher tut als eine Dokumentation."

Interview: Hans Strobel und Erhard Bultze

 

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