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Ausgabe 82-2/2000

EIN SPEZIALIST

UN SPÉCIALISTE, PORTRAIT D'UN CRIMINEL MODERNE

Produktion: Momento / FR 2 / Bremer Institut Film Fernsehen / WDR / Image Création / RTBF / Lotus / Amythos / Noga Communication; Frankreich / Deutschland / Belgien / Österreich / Israel 1999 – Regie: Eyal Sivan – Buch: Rony Brauman, Eyal Sivan – Kamera: Leo T. Hurwitz – Schnitt: Audrey Maurio – Musik: Yves Robert, Krishna Levy, Béatrice Thiriet & Jean-Michel Levy – Länge: 128 Min. – s/w – Verleih: Arsenal Filmverleih (35mm; OmU) – Altersempfehlung: ab 16 J.

1961 wurde Israel des Naziverbrechers Adolf Eichmann habhaft, stellte diesen in Jerusalem vor Gericht und ließ den gesamten Prozess von einer amerikanischen TV-Produktionsfirma mitfilmen. Mehrere Jahrzehnte verschwand das Material in diversen Archiven, bis der engagierte Filmemacher Eyal Sivan davon hörte und sich auf die Suche machte. Das Ergebnis seiner mehrjährigen Recherchen und einer aufwändigen technischen Bearbeitung legte er jetzt mit dem Dokumentarfilm "Ein Spezialist" vor:

Vorhang auf: Zu (für die meisten Ohren) dissonanter 12-Ton-Musik wird der Gerichtssaal vorbereitet und wir vernehmen die ersten Worte aus dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft, die den Angeklagten als blutrünstiges, sadistisches Monster schildert, der sich durch seine mit Leidenschaft ausgeführten Taten außerhalb der menschlichen Gesellschaft gestellt hat. Dann sehen wir es zum ersten Mal, das Monster. Doch was wir sehen, ist ein unscheinbarer Mann mittleren Alters, der sich mehr für die Sauberkeit seiner diversen Brillen und die akkurate Ausbreitung seiner unzähligen Akten zu interessieren scheint als für das, was um ihn herum geschieht und was man ihm vorwirft. Wir sehen einen kalten Bürokraten, dem man so oder ähnlich in (fast) jedem Land und (fast) jeder Behörde der Welt begegnen könnte. Und es ist genau dieser Kontrast zwischen der Unbeschreiblichkeit des Verbrechens und der schon fast makabren Durchschnittlichkeit des Täters, der seinerzeit schon Hannah Arendt zu ihrem Wort von der "Banalität des Bösen" trieb; und es ist kein Zufall, dass Sivan sagt, dieses Buch habe ihn bei seinem Film stark beeinflusst.

Denn Sivan ging es nicht um die neuerliche Rekonstruktion der faschistischen Vernichtungsmaschinerie, sondern um das Psychogramm eines Täters. Eines herausragenden Täters zwar, der jedoch in seiner Durchschnittlichkeit repräsentativ ist für jenen Typ funktionierenden Befehlsempfänger, ohne den die Shoah nie funktioniert hätte: All die vielen Lokführer, Rangierarbeiter, Stellwerker usw. usf., ohne deren reibungslose Pflichterfüllung der Apparat gehörig ins Stocken gekommen wäre.

In zwölf Kapiteln rollt der Film Ausschnitte des Prozesses auf; vor allem jene, in denen es um Eichmanns individuelle Verantwortung ging. Schließlich war er im Reichssicherheitshauptamt Chef jener Abteilung, die für den Transport der Juden in die Vernichtungslager sorgte. Doch Eichmann begegnet jedem Versuch der Staatsanwaltschaft, ihn als Mensch verantwortlich zu machen, mit der Antwort, als Befehlsempfänger nur ausgeführt zu haben, was andere anordneten. Natürlich seien das im Nachhinein betrachtet, verbrecherische Anordnungen gewesen, doch ihn treffe keine Schuld, habe er doch nur auf Befehl gehandelt. Dieser Satz fällt so oft, dass man annehmen muss, Eichmann selber sei davon überzeugt gewesen, dass die Befehlskette ihn der individuellen Verantwortung enthoben habe. Und genau das ist, worauf es dem Regisseur ankommt.

Es geht nicht darum, Eichmann wegen seiner möglichen Gesinnung oder sonstigem zur Verantwortung zu ziehen. Es geht um das was er tat, was er auch gar nicht leugnet und aus welchem Bewusstsein heraus er es tat. Für Sivan ist Eichmann genau das, was der Titel sagt: Ein Spezialist, dessen Arbeit so fragmentiert und spezialisiert geworden ist, dass es ihm leicht fällt, sich die Konsequenzen seines Handelns nicht vor Augen zu führen. Und Eichmann ist Meister in dieser Verdrängung. Nach einer Zeugenvernehmung zu den Zuständen auf den Transporten, in der ein Zeuge soeben (fast) unter Tränen berichtet hat, wie sie im KZ die Toten buchstäblich aus den Waggons kratzen mussten, spricht Eichmann von "Unbekömmlichkeiten", die er ja gerne abgestellt hätte, wenn er nicht an seinen Vorgesetzten gescheitert wäre.

Wir erleben dort einen Menschen, der heute (1961) noch voller Stolz erzählt, wie akkurat er seinen Job gemacht habe; ein Mann, der über seine Vernichtungsarbeit redet, als habe er Briefmarken transportiert und nicht wehrlose, dem Tod geweihte Menschen. Für Sivan ist er der Prototyp des modernen Verbrechers, dessen Taten erst ermöglicht werden durch Technologie und fragmentierte Entscheidungsprozesse. Und in Diskussionen sagt Sivan dann, wofür im Film wohl kein Platz mehr war. Dass Eichmann und die vielen Tausend großen und kleinen deutschen Eichmänner stellvertretend stehen für eine Welt, in der die Entscheider von den Objekten (sprich Menschen), die ihre Entscheidungen betreffen, so weit entfernt sind, dass es viel zu einfach geworden ist, sich die Konsequenzen eben nicht mehr vor Augen zu führen.

Insofern ist das ein höchst aktueller Film, denn ist es nicht genau das, was die kapitalistische Globalisierung hervorruft: Manager entscheiden mit Federstrichen über die Existenzen tausender von Menschen, ohne je auch nur einen Gedanken an die Konsequenzen zu verschwenden.

Und ganz nebenbei ist Sivans Film ein Schlag ins Gesicht all jener Geschichtsrevisionisten und Leugner des Holocaust. Denn hier steht ein Täter und sagt: "Ja, so war's; wir haben Millionen von Juden vernichtet. Ich trage zwar keine individuelle Schuld, aber es war so."

Ein Film, der sich mitunter an der Grenze der Erträglichkeit bewegt, nicht dadurch, was wir sehen, sondern was und wie Eichmann es berichtet – und ein antifaschistisches Dokument par excellence, bei dem man sich nur fragt, warum es über 30 Jahre dauerte, bis es entstand.

Lutz Gräfe

 

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