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Ausgabe 84-4/2000

"Ich war schon immer so ein nostalgischer Typ"

Gespräch mit Vincent Bal, dem belgischen Regisseur des Spielfilms "Der Mann aus Stahl"

(Interview zum Film DER MANN AUS STAHL)

Der Film wurde als bester Spielfilm – zusammen mit der norwegisch-schwedischen Koproduktion "Tsatsiki, Mama und der Polizist" – mit dem Großen Preis des Deutschen Kinderhilfswerks ausgezeichnet.

KJK: Auf dem diesjährigen Kinderfilmfest Berlin waren gleich zwei belgische Spielfilme und – außer Konkurrenz – eine aufwändige niederländisch-belgische Koproduktion zu sehen. Werden Kinder in Ihrem Land ernster genommen als früher?
Vincent Bal: "In Belgien gibt es keine große Kinderfilm-Tradition, aber endlich gibt es jetzt ein paar neue Filme für Kinder und sie kommen beim Publikum sehr gut an. Allerdings nehmen meine Landsleute sie gar nicht als Kinderfilme zur Kenntnis, sie gehen einfach so rein. Auch 'Der Mann aus Stahl' ist ja kein richtiger Kinderfilm – denn es ist bestimmt schöner, ihn in einem Alter zu sehen, wenn man den ersten Kuss schon hinter sich hat.
Obwohl ich hier bei der Vorführung auch Jüngere gesehen habe, zum Beispiel einen kleinen Jungen von sieben Jahren, der ganz begeistert war, aber vermutlich hatte er mehr Freude an den Phantasie-Abenteuern im Weltraum. Überhaupt war diese wechselseitige Kommunikation mit den Kindern hier auf der Berlinale großartig – es war einfach toll, dass sie wirklich über den Film mit mir sprechen wollten. Ich war vorher nämlich ganz unsicher, was mich bei diesem Kinderfilmfest erwarten würde. In meinen schlimmsten Träumen sah ich einen riesigen Kinosaal voll mit viel zu kleinen Kindern, die Ballons aufblasen, nach Clowns und anderen Unterhaltungsgeschichten verlangen oder während der Vorführung weinen – aber sie waren wirklich ein tolles Publikum."

Gibt es einen ganz persönlichen Bezug zu Ihrem Film?
"Ja vielleicht, denn ich habe meinen Vater im gleichen Alter wie Viktor, die Figur im Film, verloren. Aber ich war nicht so blockiert wie er und natürlich hab' ich damals auch keine seltsamen Kostüme getragen. In dem Film ist das ja eine Möglichkeit, Viktors Gefühle auszudrücken, die man, weil er sie in der Realität nicht zeigt, auch nicht sehen kann. Außerdem glaube ich, dass eine anrührende Geschichte besser funktioniert, wenn nicht alles so ernst und unwiederbringlich gezeigt wird – möglichst noch unterlegt mit tausend Geigen, die auf die Tränendrüsen drücken. Ohne Humor ist das Leben doch nicht zu ertragen, das stelle ich immer wieder fest. Weil ich Viktors Geschichte auf keinen Fall sentimental erzählen wollte, bin ich auf diese Science-Fiction-Fantasy-Szenen gekommen. Und die Kinder finden das gut. Obwohl ein Journalist in Belgien geschrieben hat, dass er nicht glaube, diese Szenen wären für sie spannend genug, weil sie ja überhaupt nicht an den 'Krieg der Sterne' erinnern. Aber er hat das meiner Meinung nach gründlich missverstanden – es handelt sich ja um die Phantasien dieses Jungen und die müssen eben kindlich verspielt, nicht digital produziert sein."

Wie viele Kinder haben Sie getestet?
"Das Casting habe ich zusammen mit dem Regieassistenten gemacht, denn wir hatten einen ziemlich kleinen Etat. Es war nicht so, dass wir uns 1000 Kinder angesehen hätten, eher 100. Aber man kann auch ziemlich schnell sagen, wer geeignet ist. Außerdem ist das nicht nur die Frage, ob jemand gut spielt, sondern auch, ob man mit dieser Person zurechtkommt, ob man sie mag."

Wie war denn die Arbeit mit den Kindern für Sie?
"Die Leute sagen immer: Mit Kindern, nein, wie schrecklich! Wie kannst du das machen? Aber für mich ist das sehr bewegend. Wenn man ihnen Vertrauen schenkt, geben sie so viel zurück – sie sind ganz offen und sehr konzentriert, mit den meisten Kindern kann man richtig professionell arbeiten. Mit dem Mädchen war es manchmal etwas schwierig, weil sie erst 11 ist, obwohl sie ja viel älter aussieht. Deshalb sprach ich manchmal mit ihr wie mit einer 15-Jährigen, aber sie war wirklich noch ein Kind, noch ganz unerfahren, und hatte nur eine kurze Konzentrations-Spanne. In den ersten Tagen war auch ihre Mutter dabei und das war schrecklich. Ich musste sie fortschicken, weil das Mädchen dann einfach zu angespannt war. Dann stellte ich fest, dass es besser ist, sie nicht allein aufzunehmen, sondern möglichst zusammen mit einem der anderen Schauspieler. So war das für sie ein bisschen wie Spielen. Der Junge hatte schon vorher in Filmen gespielt, er war wirklich sehr professionell. Man muss sich mal vorstellen, was er da aushalten musste: Von den 28 Drehtagen hatte er, glaube ich, 27 Tage zu tun – aber er war so nett und diszipliniert, ein richtig guter Schauspieler."

Haben Sie noch Kontakt zu den beiden?
"Also wir sind befreundet, aber es ist nicht so, dass ich ihnen jeden Tag einen Brief schreibe – das gilt ja ganz generell für die Arbeit beim Film: Man arbeitet fast jeden Tag zusammen und für diese kurze Zeit entsteht eine ganz intensive Nähe und danach siehst du die Leute nur noch selten. So ist das eben, aber ich finde das auch gut."

Wie sind Sie auf die ausgestopften Tiere gekommen?
"Das war vielleicht überhaupt der Ausgangspunkt für meinen Film. Ich weiß nicht warum, aber ich finde es sehr faszinierend, dass Menschen ihre Tiere ausstopfen lassen und sie dann bei sich aufstellen, um die Erinnerung lebendig zu halten. Der ganze Film handelt ja von Erinnerungen, und dafür stehen eben die ausgestopften Tiere."

Sie sind ja noch sehr jung, keine 30 Jahre alt, und ich wundere mich, dass Sie diesen Film gemacht haben – und zwar nicht nur als Regisseur. Sie haben sich ja auch die Geschichte ausgedacht und das Drehbuch geschrieben. Meist sind die Regisseure oder Autoren, die sich mit Jugend und Problemen der Pubertät beschäftigen, wesentlich älter. Was war für Sie an diesem Thema so interessant?
"Das ist für mich eine ganz schwere Frage. Ich habe ja schon vorher zwei Kurzfilme über dieses Thema gemacht und mich mit anderen Regisseuren darüber unterhalten. Vielleicht bin ich selbst noch ein Kind. Das Schöne an dieser Zeit deines Lebens ist ja die Tatsache, dass du so viele Sachen zum allerersten Mal machst, da ist alles noch frisch und neu – ich glaube, das ist die interessanteste Zeit überhaupt. Da hast du noch diese Riesen-Erwartungen – und manchmal werden die ja auch wahr. Außerdem war ich schon immer so ein nostalgischer Typ! Ich habe auch diese merkwürdige Affinität zu den 50er-, 60er-Jahren, also dieser Look von damals übt einen seltsamen Reiz auf mich aus. Ich weiß nicht, woher das kommt, aber wenn ich viel älter bin, bin ich vielleicht überhaupt nicht mehr süchtig nach der Vergangenheit und mache ganz was anderes."

Auch die Rolle der Conchita, die den Jungen in die Liebe einführt, hatte für mich etwas Nostalgisches. Als Romangestalt gibt es sie ja in vielen Geschichten der Jahrhundertwende, auch früher schon.
"Ja, ich weiß. Als ich so 14 war, habe ich in diesen Büchern gelesen, dass so ein Junge mit dem Hausmädchen vielleicht im gleichen Raum schlief und es dann passiert ist. Ich war fasziniert, für mich war das ein Traum. Allerdings weiß ich, dass auch Freunde von mir diese Art von Erfahrung hatten, nicht mit einem Hausmädchen, aber z. B. mit einer älteren Cousine. Heute sollen die Jugendlichen ja schon all diese Erfahrungen haben, wenn sie 12 sind. Aber während des Castings habe ich immer wieder über den ersten Kuss und die ersten sexuellen Erfahrungen mit ihnen gesprochen und da waren sehr viele, die sagten, dass sie ihren ersten Kuss noch gar nicht erlebt hätten. Auch die Mädchen nicht, obwohl viele von ihnen aussahen, als hätten sie schon seit Jahren Sex. Also ist es immer noch etwas Besonderes und ich finde es schön, das zu zeigen."

Bei uns wird der Kinderfilm oft nur als Sprungbrett benutzt. Wie sehen Sie das?
"Es ist schwierig. Ich persönlich denke ja nicht in den Kategorien Kinder/Erwachsenenfilm – ich möchte einfach einen Film machen, den ich selbst sehen möchte. Es kann natürlich auch ein großer Reinfall werden, aber wenn er dir gelingt, ist das besser, als wenn du bestimmte Vorgaben und Erwartungen der Zuschauer erfüllst. Nur so kannst du einen ehrlichen Film machen. Natürlich gibt es Leute, die der Meinung sind, so ein Film ist einfach zu teuer, um ihn den Künstlern zu überlassen. Aber so darf es nicht sein. Das Publikum hier scheint ja auch Freude daran zu haben, jedenfalls sind so viele Leute nach der Vorführung im Zoo-Palast zu mir gekommen und haben gesagt: 'Ich fand den Film wirklich toll' und 'Er hat mich sehr betroffen gemacht'. Das ist es dann wert. Ich meine, das ist das Einzige, weshalb es sich lohnt. Ich möchte den Zuschauer anrühren, ich möchte ihn unterhalten und zum Lachen und Weinen verführen."

Aber Sie befinden sich ja trotzdem in einem knallharten Geschäft, in dem ein Erfolg den nächsten verlangt. Wie können Sie dem Druck widerstehen?
"Das ist sehr schwer – deshalb kannst du auch einen Film nur machen, ohne allzu viel nachzudenken, ob er auch stark oder neu genug ist. Sonst fängst du an, ihn mit all den anderen Filmen zu vergleichen – und das ist frustrierend. Wenn man ehrlich ist, kann man durchaus fragen, warum man überhaupt noch einen Film machen soll – schließlich kommen jedes Jahr so viele neue heraus."

Sie haben mit Ihrem Film "The Bloody Olive" eine Parodie über das Genre des film noir gemacht und dafür viele Preise bekommen. Gibt es für Sie irgendwelche Lieblingsfilme oder Regisseure, die Sie ganz besonders schätzen?
"Ja, eine Menge. Also an Filmen mag ich ganz besonders 'The shop around the corner' von Ernst Lubitsch – mit James Stewart in der Hauptrolle. Ein phantastischer Film, weil er erst mal sehr anrührend und außerdem lustig ist. Und was ich toll daran finde, ist die Aufmerksamkeit, die Lubitsch auch den Nebenrollen widmet. Zu meinen Lieblings-Regisseuren gehören auch Jacques Tati, Woody Allen natürlich und Billy Wilder."

Ich glaube, es gibt gar nicht so viele Leute, die diese Art von Humor haben.
"Ja, heute müssen die Filme entweder sehr ernsthaft oder sehr schockierend sein, aber die Subtilität, dieser erotische Humor und diese feine Spannung in den Beziehungen untereinander wie etwa in den Filmen von Lubitsch existiert nicht mehr, jedenfalls sieht man das nur sehr selten. Schade, weil ich diesen Ton wirklich sehr liebe. Aber wenn man diese romantischen Komödien heute wieder machen wollte, funktioniert das nicht. Es sind ja schon so viele Geschichten erzählt worden, man kann machen, was man will, sie sind bereits zu Prototypen geworden. Man muss sich schon was Neues einfallen lassen.
Und die Leute sehen die Geschichten heute auch anders als früher. Wenn bestimmte Sachen passieren, wissen sie schon, wie es weiter geht. Deshalb kann man mit ihren Erwartungen auch spielen, man kann sie neu mischen und das Erzählen von Geschichten selbst zum Thema machen. Im 'Mann aus Stahl' habe ich auch ein bisschen mit den Film-Klischees gearbeitet, z. B. beim Pferderennen und dem Dienstmädchen. In meinem nächsten Spielfilm möchte ich das noch intensiver betreiben. Das wird eine Comic-Adaption von Louis Trondheim sein, diesem französischen Künstler, der seine Figuren als Tiere im Anzug zeichnet – Comics sind nach wie vor eine große Inspiration für mich, was den Humor betrifft und die Art, wie man eine Geschichte erzählt. Aber das wird kein Zeichentrickfilm. Wir arbeiten gerade am Drehbuch und der Produzent ist dabei, das Geld aufzutreiben. Es ist eine gute Fantasy-Geschichte, irgendwie hat sie so einen magischen Realismus. Ich glaube, das kann ganz gut werden."

Das Gespräch mit Vincent Bal führte Uta Beth

 

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