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Ausgabe 93-1/2003

SEIN UND HABEN

ÊTRE ET AVOIR

Produktion: Arte France Cinema / Les Films d'Ici / Centre National de Documentation Pédagogique / Canal-V / Gimages 4; Frankreich 2002 – Regie, Buch und Schnitt: Nicolas Philibert – Kamera: Katell Dijan, Laurent Didier – Länge: 104 Min. – Farbe, 35mm – Verleih: Ventura – Altersempfehlung: ab 12 J.

Monsieur, monsieur, mais l'ours, je n'ai pas encore fais l'ours. Der kleine Jojo hat den Bären noch nicht ausgemalt und Monsieur, der Herr, der Lehrer, hat schon aufgerufen. Jojo muss sich beeilen, soll doch das auszumalende Bild noch fertig werden. Und er soll auch noch etwas anderes lernen. Wieso wir alle hier seien, fragt Monsieur Lopez später den kleinen Jojo, der von einer Offenheit und Unschuld und Unmittelbarkeit ist, die sofort berührt. Pourquoi? Mais Monsieur, um all diese Dinge hier zu machen, und um zu lernen. Et oui! Und Georges Lopez schickt Jojo endlich in die wohlverdiente Pause. Seit über zwanzig Jahren macht er das nun schon, unterrichtet in einer Ein-Klassen-Schule in der südfranzösischen Provinz, irgendwo in der Auvergne, wo der ganztägige Schulalltag zwischen dreizehn Kindern verschiedener Altersstufen, vom Kindergartenalter bis hin zur fünften Klasse, und ihrem Lehrer wie eine naturgegebene Selbstverständlichkeit anmutet.

Da sitzt ganz klein neben immerhin schon mittelgroß, allesamt in einem Raum, malen, schreiben, rechnen, singen, lachen, weinen, schreien – und es scheint, als sei zumindest hier, in diesem beschaulich-geschützten Mikrokosmos, fernab jeglichen lauten Treibens, irgendwie die Welt doch noch in Ordnung. Und auf dem Fußboden krabbeln die zwei Schildkröten umher. In Frankreich gibt es das noch immer, auch wenn es stetig weniger werden von diesen 400 Schulen, in denen die Kleinen auf ein soziales Miteinander da draußen in der Welt vorbereitet werden und den Eltern zugleich viel abgenommen wird, da es Ganztagsschulen sind. So wird der Lehrer, so wird der sympathisch-ruhige Monsieur Lopez mit seinem Rauschebart für seine Zöglinge zum wichtigen Ansprechpartner, ist quasi drittes Elternteil.

Mit einem der schon etwas älteren sitzt er einmal draußen auf der Bank im Garten und der Junge hat Angst, dass sein Vater stirbt, der schwerkrank ist. Er weint, ist verzweifelt. Und Monsieur Lopez hört ihm zu, versucht, ihm Kraft zu geben, Hoffnung auch. Das ist von einer ungemein großen Intensität und Dichte und Authentizität und Ehrlichkeit, das ist mit einer bewundernswerten Zurückhaltung gefilmt, die Kamera, das kleine Filmteam, scheint völlig vergessen, scheint nicht zu stören, nein, sie scheint der "Komplize" der Handelnden geworden zu sein. Hierin liegt eine der nicht zu unterschätzenden Leistungen des 51-jährigen, namhaften französischen Doku-Autorenfilmers Nicolas Philibert ("Im Land der Stille", 1992), der seinen Film, zu dem er ursprünglich einmal 60 Stunden Material gedreht hatte, übrigens auch selbst geschnitten hat.

"Sein und Haben / Être et avoir" ist ein kleines filmisches Juwel, ein zärtlicher Film, durchdrungen von einem aufrichtig humanistischen Gedanken. Und vielleicht einfach nur ganz schlicht über les choses de la vie, über die Dinge des Lebens. Der Film zog in Frankreich verdientermaßen und sensationellerweise – es handelt sich dabei ja immer noch um das stiefmütterlich behandelte Doku-Genre! – bereits knapp 1,5 Millionen Zuschauer an, und auch in Deutschland kommt er nun zum Glück in die Kinos und wird hoffentlich Groß und Klein begeistern. Zudem erhielt der Film im Dezember auf der 15. Europäischen Filmpreis-Verleihung in Rom den Europäischen Dokumentarfilmpreis "Prix Arte".

Am Schluss dann zeigt Nicolas Philibert den letzten Schultag, das Jahr ist vorüber, Monsieur Lopez muss Abschied nehmen von seinen Kindern. Eine wunderbar unaufdringlich eingefangene, ja tief berührende, bewegende Szene: Alle gehen sie langsam raus aus dem Klassenraum, jeder bleibt bei Monsieur Lopez im Türrahmen stehen, und es werden Küsschen verteilt, manchmal muss er sich auch hinknien, so klein sind einige von ihnen. Au revoir, Monsieur Lopez – Au revoir, mon petit Jojo. Irgendwann, da sind sie alle vorbeigelaufen an ihm, sind alle weg, ist der Klassenraum leer. Stille, wo eben noch Leben tobte. Tränen haben sich hinter Monsieur Lopez' Brille angesammelt, kaum sichtbar, verhaltene Tränen, könnte er doch ihr Vater sein. Es sind Tränen des Abschieds und voller Liebe. Er hat wieder einen Teil seines Lebens mit ihnen verbracht. Viele von ihnen wird Monsieur Lopez wohl nie wieder sehen.

Thilo Wydra

 

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