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Ausgabe 96-4/2003

"Ich gebe denen eine Stimme, die man sonst nicht hört."

Interview mit Ken Loach

(Interview zum Film SWEET SIXTEEN)

Seit Jahrzehnten wird der Engländer Ken Loach nicht müde, in Filmen wie "My Name is Joe", "Raining Stones" oder in seinem in den USA gedrehten Werk "Bread and Roses", die Ungerechtigkeit der Welt zu beschwören. Nicht larmoyant, sondern mit leisem Witz und subversivem Humor. In "Sweet Sixteen" träumt ein Teenager von einer intakten Familie, auch wenn die Mutter im Knast sitzt und die Schwester allein ein Baby aufzieht. Um diesen Traum zu verwirklichen, steigt er ins Drogengeschäft ein. An seinem 16. Geburtstag liegt das Leben schon hinter ihm.

KJK: Im Gegensatz zu Ihren anderen Filmen ist der Protagonist hier noch sehr jung.
Ken Loach: "Wenn Erwachsene schlechte Karten im Leben haben und nicht aus ihrem Teufelskreis herauskommen, ist das schon sehr schlimm. Aber wenn ein Jugendlicher, der eigentlich noch Träume haben sollte, in eine ausweglose Situation gerät, schmerzt das viel mehr. Mich interessierte dieser Bruch – auf der einen Seite fast noch Kind, auf der anderen fast schon Erwachsener."

"Sweet Sixteen" spielt erneut im Norden Englands, in einem Vorort von Glasgow. Was reizt Sie an dieser Gegend und ihren Bewohnern?
"Ich mag vor allem die Ehrlichkeit der Leute, sie nehmen kein Blatt vor den Mund. 'Sweet Sixteen' ist nach 'My Name is Joe' der zweite Teil meiner geplanten Glasgow-Trilogie. Aber machen wir uns nichts vor. Die Handlung hätte ebenso gut in Berlin oder Bremen spielen können, überall da, wo Arbeitslosigkeit herrscht und Jugendlichen die Perspektive fehlt."

Berufen Sie sich auf einen konkreten Fall?
"Nein, der Film beruht auf einer Sammlung von Beobachtungen, die ich aus dramaturgischen Gründen zugespitzt habe. Wir haben Organisationen kontaktiert, die sich um Kinder kümmern, mit Streetworkern gesprochen und Jugendliche in Sportclubs, Fußballvereinen, Schulen und verschiedenen Treffpunkten aufgesucht. Uns ging es um ein exemplarisches Schicksal. Ein Junge mit gewinnendem Charakter, der glaubt, alles in den Griff zu kriegen, auch wenn es schief läuft. Diese Energie hat man nur in einem bestimmten Alter."

Man könnte heulen, wenn man sieht, wie er seine Chancen verspielt. Wo bleibt da die Hoffnung?
"Ein hoffnungsvolles Ende wäre unrealistisch, verlogen und verantwortungslos. Und was heißt hier Chancen verspielen? Hat er überhaupt welche? Das ist doch der springende Punkt. 70 Prozent der Jugendlichen brechen die Schule ab, stehen ohne einen qualifizierten Abschluss auf der Straße. Ihnen bleiben nur krumme Geschäfte oder – noch schlimmer – Drogenhandel. Ganz wenige schaffen den Absprung, bei den meisten ist die kriminelle Karriere vorgezeichnet. Nicht sie sind schuld, sondern die Politik. Die Kids werden einfach allein gelassen, die Gesellschaft kümmert sich nicht um die Heranwachsenden. In Deutschland wie in England spart man an Lehrstellen, die einzige berufliche Alternative heißt Call-Center. Wo bleibt die Zukunft der nächsten Generation?"

Möchten Sie noch einmal 16 sein?
"Meine Jugend in den 50er-Jahren war von Aufschwung geprägt, wir konnten uns Berufe aussuchen, die Prosperität schien grenzenlos. Heute gibt es keine Sicherheit mehr. Vogel, friss oder stirb! Der Thatcherismus ist Modell für Berlusconi in Italien, in Deutschland kürzt man soziale Leistungen mit dem Rasenmäher, in England haben wir New Labor. Überall herrscht wirtschaftlicher Druck, die Rechte der Arbeitnehmer sind Manövriermasse. Ich möchte nicht mehr jung sein, das gilt heute als Strafe."

Wie haben Sie Martin Compston gefunden, den idealen Hauptdarsteller?
"Durch Zufall. Er ist 17 und besucht noch das Gymnasium. Ohne jemals vor der Kamera zu stehen, wusste er intuitiv, was zu tun war. Er spiegelt exakt diese notwendige Mischung aus Naivität und Überlebenswillen."

Ihre Filme beeindrucken durch Authentizität. Liegt das auch daran, dass Sie mit Profis und Laien zusammenarbeiten? Wie machen Sie das?
"Die Mischung finde ich sehr gut. Beide Seiten lernen voneinander. Ich lasse gerade den Laien sehr viel Freiheit, gebe nicht jede Dialogzeile vor. Da es ja um Erfahrungen der Kids geht, ist es wirklichkeitsnäher, wenn die Schauspieler eigene Worte benutzen und auch mal etwas anfügen oder einfach sagen, so stimmt das nicht. Aber ich gehe nicht bis zur Improvisation. Der Rahmen ist gesteckt."

Ist Film für Sie eine andere Form der Politik?
"Es geht mir um Gerechtigkeit, für mich keine sentimentale, sondern eine politische Frage. Der dramatische Stoff ist in der Working-class viel reicher. Dieser permanente Kampf gegen Windmühlenflügel wie bei Don Quichotte geht unter die Haut. Auch die Sprache empfinde ich als reicher. Die Sorgen der Mittelklasse, welches Auto man sich nun zulegt oder wohin man in Urlaub fährt, juckt mich nicht. Ich will die Menschen in ihrem sozialen Umfeld zeigen, in ihrer Wirklichkeit. Allerdings fühle ich mich nicht als Messias, sondern kann nur auf Missstände aufmerksam machen. Die große Weltveränderung oder Weltrevolution durch Film habe ich mir schon lange abgeschminkt. Ich gebe denen eine Stimme, die man sonst nicht hört."

Kehren Sie nach Filmen wie das spanische Bürgerkriegsdrama "Land and Freedom" oder Ihrem in Amerika gedrehten Film über illegale Einwanderer "Bread and Roses" nun mit "Sweet Sixteen" wieder zu Ihren Wurzeln zurück, den mehr persönlichen Filmen im Norden Englands?
"Die emotionale Herausforderung ändert sich nicht. Die Organisation in England ist leichter, meine Instinkte funktionieren besser, weil ich einfach näher am Thema bin. Ich habe meine Wurzeln nie vergessen und auch nie die kleinen Geschichten der Gegenwart aus den Augen verloren."

Das Interview mit Ken Loach führte Margret Köhler

 

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