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Ausgabe 97-1/2004

BALZAC UND DIE KLEINE CHINESISCHE SCHNEIDERIN

BALZAC ET LA PETITE TAILLEUSE CHINOISE

Produktion: Les Films de la Suane / TF 1; Frankreich 2002 – Regie: Dai Sijie – Buch: Dai Sijie, Nadine Perront, nach Daj Sijies gleichnamigem Roman – Kamera: Jean-Marie Dreujou – Schnitt: Louc Barnier, Julia Gregory – Musik: Wang Pujian – Darsteller: Zhou Xun (Schneiderin), Chen Kun (Luo Ming), Liu Ye (Ma Jianling), Wang Shuangbao (Dorfvorsteher), Chung Zhijun (alter Schneider) Wang Hongwei (Vier-Auge) – Länge: 116 Min. – Farbe – FSK: o. A. – Verleih: Schwarz/Weiß – Altersempfehlung: ab 14 J.

Beim Chemnitzer "Schlingel" hatte ich den Film gesehen und kaufte mir das als "Bestseller" ausgewiesene Buch dazu, schönes Anschauungsmaterial zum Thema Literaturverfilmungen. Roman und Film liegen autobiografische Erfahrungen aus den 70er-Jahren während der Kulturrevolution zu Grunde. Vielleicht wurde der Film-Regisseur bei der Wiederbegegnung mit den Menschen, mit den Schauplätzen seiner mehrjährigen Verbannung authentischer, dokumentarischer, als er es als Buch-Autor sein konnte, der seine Erinnerung in einen Roman einkleidete, den er im französischen Exil zu Papier brachte. Auch wenn – makabre Erinnerung an die dramatischen Mao-Zeiten – ihn die chinesische Zensur aufgefordert hatte, für den Film doch einen chinesischen Autor zu wählen. Es war keiner auffindbar! So blieb die Dramaturgie von Buch und Film erhalten, vor allem ihre Botschaft – Balzacs Geschichten, an die der Erzähler und sein Freund nur mit List und Tücke herankommen, beeinflussen die Lebensplanung einer kleinen Chinesin am anderen Ende der Welt, "tote" Literatur ermöglicht in mörderischen Zeiten das Überleben ...

Der Film beginnt vor über 30 Jahren. Als Sohn "bourgeoiser Elemente" wird der Erzähler mit seinem besten Freund aufs Land verbannt, um von den revolutionären Bauernmassen umerzogen zu werden. Ein dürftig begründetes ideologisches Vorhaben, das prompt dazu führt, dass die beiden Teenager die intellektuell rückständige Dorfbevölkerung auf ihre Weise "erziehen". Atemberaubend ist der Aufstieg zum Ort der Verbannung, zum Berg "Phönix des Himmels". Er lässt den Zuschauer angesichts endlos aufeinander folgender Bergketten ins Schwelgen geraten, während der weltabgeschiedene Ort der Verbannung erreicht wird. Die mitgebrachten Bücher werden auf Verdacht verbrannt – keiner konnte sie lesen. Die Geige entgeht diesem Schicksal nur dank einer geistesgegenwärtig erfundenen engen Beziehung zwischen Mozart und Mao. Die tägliche Qual beginnt: Kriechen durch Kohlestollen, Tragen schwappender Jauchebehälter auf dem Rücken, mühselige Landarbeit. Eine Wende bringt der "Auftrag", in der nächsten Kleinstadt Filme anzuschauen und sie der Dorfbevölkerung detailgetreu zu erzählen. Sie lernen "die kleine Schneiderin" kennen – das schönste Mädchen der ganzen Gegend, verlieben sich beide in sie. Der Freund gewinnt sie, doch der Erzähler betreut sie bei einer Abtreibung, beide verlieren sie. Dazwischen faszinierende Bilder vom mühsamen Weg über die Berge; Burlesken – vom Ergaunern der verbotenen Literatur ebenso wie von der laienhaften "Zahnoperation" am feindseligen, aber leidenden Dorfvorsteher; Tragödien – vom Aufsuchen eines Gynäkologen im trostlosen Kleinstadtkrankenhaus bis zum Eingriff in der Hütte der beiden Freunde.

Der Film endet mit einem Vorgriff auf das Jahr 2003, als der Jangtse in einem gigantischen Projekt angestaut wird und den Schauplatz der tragischen, aber humorvoll erzählten Ereignisse zu überfluten beginnt. Damit schlägt er, anders als das Buch, einen Bogen von der Umerziehung zur Umsiedlung der Massen, er erzählt vor diesem Hintergrund – trotz der eindrucksvollen Landschaft kammerspielartig – eine Geschichte, in der sich unverbrüchliche Freundschaft und Liebe verquicken mit humorvoll dargestellten Tricks zum Überleben menschenunwürdiger Bedingungen. Am Ende begegnen sich die beiden arrivierten Freunde erneut im brodelnden Shanghai an der Schwelle des 21. Jahrhunderts. Wehmütig erinnern sie sich der kleinen Schneiderin. Beide haben sie gesucht und sie nicht wieder gesehen. Ihre Spuren verlieren sich auf dem Weg von der Sonderwirtschaftszone Shenzhen nach Hongkong.

"Balzac und die kleine chinesische Schneiderin" erhielt eine Lobende Erwähnung der Jugendjury beim Internationalen Kinderfilmfestival in Chemnitz 2003.

Christl Grunwald-Merz

 

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