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Ausgabe 59-3/1994

DEFA-Filme von 1965/66: Dokumente einer verlorenen Zeit

(Hintergrund zum Film KARLA)

"Denkst du nie, dass das alles noch mal verloren gehen könnte?" fragt ein alter Redakteur mit KZ-Erfahrung einen Parteisekretär im Film "Berlin um die Ecke"; 1965 gedreht, wurde der Film ein Jahr später, zusammen mit elf weiteren DEFA-Produktionen, verboten. Die Filme verschwanden in den Regalen im Archiv und fanden erst nach einem Vierteljahrhundert den Weg in die Öffentlichkeit. Die Worte des alten Redakteurs, die Wirklichkeit wurden, klingen heute wie ein prophetischer Warnruf.

Vier der sogenannten Regal- oder Verbotsfilme hat das Kinder- und Jugendfilmzentrum in der Bundesrepublik Deutschland in den Verleih genommen und bietet sie im 16mm-Format an: "Jahrgang 45", "Berlin um die Ecke", "Karla" und "Wenn du groß bist, lieber Adam" zeugen von der Aufbruchstimmung der DEFA-Filmschaffenden, ihrer positiven Kritik an der realen Entwicklung und ihrer Lust am Experimentieren. Sie sind zugleich authentische Zeugnisse über eine Generation von Jugendlichen, denen die Luft und die Räume zu eng werden, die nach eigenen Lebensentwürfen suchen, nach alternativen Lebensformen, die der Phantasie und Initiative keine Grenzen setzen. Die Filme über die DDR-Jugendlichen im Spannungsfeld zwischen Gesellschaft, Partei und Staat zeugen von Innovation und Resignation, von Lederjacken-/Motorradkult und Krawattenzwang. Ihre Bandbreite reicht vom authentischen und nahezu dokumentarischen Material ("Jahrgang 45") bis hin zu provozierenden Experimenten mit Farben, Gegenständen, Formen und Tönen ("Wenn du groß bist, lieber Adam"), die in ihrer unbequemen Radikalität auch heute noch eine Herausforderung sind.

Ermutigt durch die Entwicklung in der Sowjetunion suchte eine junge Generation von DDR-Filmemachern in den 60er-Jahren missliebige Entwicklungen im eigenen Land offen anzusprechen. Sie kritisierten die "keimfreie Anständigkeit des Mittelmaßes und das Bild des sauberen Durchschnitts" in den DEFA-Filmen. Die kurze "Tauwetterperiode" währte allerdings nur bis Chruschtschows Entmachtung 1964. Im Zuge des 11. Plenums des ZK der SED setzte 1965 in der DDR eine Repressionswelle ein, die sich gegen unerwünschte Erscheinungen einer alternativen Jugendkultur (lange Haare, Beatmusik) ebenso richtete wie gegen kritische Schriftsteller (Wolf Biermann, Stefan Heym) und Filmemacher. Kurt Maetzigs Film "Das Kaninchen bin ich", dem der zwei Jahre zuvor verbotene Roman von Manfred Bieler zugrunde liegt, und Frank Vogels Film "Denk bloß nicht, ich heule" wurden als krasse Beispiele für die Negation des Sozialismus auf dem 11. Plenum des ZK der SED gebrandmarkt und anschließend verboten. Sie waren die ersten Opfer einer berüchtigten Aktion, die zu verhindern suchte, dass die Kinoleinwand ein Spiegel der wahren Verhältnisse im Land wurde. Fast eine ganze Jahresproduktion der DEFA blieb damals auf der Strecke. Dass die meisten Filme, die nach der Parteitagung 1965 verboten wurden, Jugendfilme waren, dürfte kein Zufall sein.

KARLA

Produktion: DEFA Studio für Spielfilme, Gruppe Berlin, DDR 1965-66/90 – Regie: Herrmann Zschoche – Buch: Ulrich Plenzdorf, Herrmann Zschoche – Kamera: Günter Ost – Darsteller: Jutta Hoffmann, Jürgen Hentsch, Rolf Hoppe, Inge Keller, Hanns Hardt-Hardtloff u. a. – Länge: 128 Min. – s/w – Verleih: KJF (16mm)

Karla macht in Mecklenburg ihre ersten Erfahrungen als Lehrerin. Ihre Kollegen haben sich selbstzufrieden eingerichtet, und ihre Schüler, die sie kurz vor dem Abitur vom Direktor übernommen hat, verschweigen lieber ihre wahren Gedanken. Karla kämpft gegen die Liturgie des Dogmatismus. Sie kratzt am Lack und bringt unter der glatten Oberfläche intelligente und sensible Charaktere zum Vorschein. Dass das nicht gut gehen kann, sieht nur einer voraus, der selbst einmal Vokabeln wie "eigene Meinung" und "selbstständiges Denken" ernst genommen hat. Kaspar, der sich in den Norden zurückgezogen hat, nachdem er für seine Zeitung über Stalins Verbrechen schreiben sollte und dann doch nicht durfte, liebt Karla und kann sie doch nicht schützen. Taktieren ist nicht ihre Sache. Ihre Wahrheitsliebe siegt und es kommt zwangsläufig zur Katastrophe ...

"Karla", in schwarzweiß mit wunderschönen tiefenscharfen Bildern von Günter Ost gedreht, ist zwar ein alter, aber kein veralteter Film. In seiner Anklage des opportunistischen Schweigens und der dumpfen Angepasstheit ist er zeitlos. Vor allem die unbekümmerte Direktheit der jungen Lehrerin (Jutta Hoffmann) sorgt für frischen Wind und hat damals offensichtlich den Nerv der Funktionäre getroffen.

JAHRGANG 45

Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe 'Roter Kreis', DDR 1965-66/90 – Regie: Jürgen Böttcher – Buch: Klaus Poche, Jürgen Böttcher – Kamera: Roland Gräf – Darsteller: Rolf Römer, Monika Hildebrand, Paul Eichmann u. a. – Länge: 94 Min. – s/w – Verleih: KJF (16mm)

Auch "Jahrgang 45", das Spielfilm-Debüt von Jürgen Böttcher, ist ein Film über die "Wahrheit, die die Genossen nicht wissen wollen". Er erzählt mehr in Bildern als in Dialogen. Al und Lisa – ein junges Ehepaar – wollen sich scheiden lassen. Sie lieben sich und können doch nicht miteinander leben. Sie gehen auseinander und haben doch Sehnsucht nacheinander. Sie verletzen sich und spüren doch ihre Liebe dabei. Al und Lisa wollen nicht wie ihre Eltern leben und wissen doch nicht, wie sie leben sollen. In den Augen seiner Nachbarn gilt Al, der laute Motorräder und heiße Rhythmen liebt, als Halbstarker. Dabei ist er lediglich auf der Suche nach sich selbst, nach Freiräumen, die es ermöglichen, dem spießbürgerlichen Milieu und dem vom Regime vorgezeichneten Lebensentwurf zu entkommen.

Jürgen Böttchers Geschichte über die Trennung und das Sichwiederfinden eines jungen Paares ist ganz privat. Politik kommt nicht vor. Und doch vermittelt der Film ein Lebensgefühl, das Ratlosigkeit und eine unstillbare Sehnsucht nach einem anderen, hoffnungsvolleren Leben ausdrückt. Präzise Beobachtungen, ein intensives Eingehen auf die Menschen und überzeugende Darsteller verleihen dem Film eine schmerzliche Authentizität. "Jahrgang 45" ist der einzige Spielfilm des renommierten Dokumentaristen und Malers Jürgen Böttcher.

WENN DU GROSS BIST, LIEBER ADAM

Produktion: DEFA-Studio für Spielfilme, Gruppe 'Roter Kreis', DDR 1965/90 – Regie: Egon Günther – Buch: Helga Schütz, Egon Günther – Kamera: Helmut Grewald – Darsteller: Stephan Jahnke, Gerry Wolff, Manfred Krug, Rolf Römer u. a. – Länge: 78 Min. – Farbe – Cinemascope – Verleih: KJF (16mm)

Kampf gegen Heuchelei und Lüge versuchte Egon Günther in "Wenn du groß bist, lieber Adam" listig im Gewand einer naiven Märchenkomödie durch die Zensur zu schmuggeln. Ein prächtiger weißer Schwan schenkt dem neunjährigen Adam eine Taschenlampe. Keine alltägliche Lampe, wie sich bald herausstellt. Wenn man die Lampe auf Menschen richtet, entlarvt sie, ob der Betreffende lügt oder die Wahrheit sagt. Lügt er, verliert er buchstäblich den Boden unter den Füßen und geht im Lichtstrahl der Lampe in die Luft. Schon bald interessieren sich auch andere für die Zauberlampe. Ein Liebespaar will mit der Lampe seine Gefühle prüfen. Der Betrieb des Vaters will die Lampe sogar serienmäßig herstellen. Am Ende muss Adam einsehen, dass auch eine Wunderlampe nicht nur Glück bringt. Er trennt sich wieder von ihr und findet dabei sogar die Unterstützung eines Ministers: "Ich hätte sie auch vernichtet. Entweder wir bekennen uns dazu, den Menschen zu vertrauen, oder es wird alles nur ein Fortstolpern sein, und das ist nicht die glücklichste Art der Fortbewegung."

Der Satz wirkt heute wie ein prophetisches Menetekel. Dabei war es u. a. die Darstellung des Ministers, die die Zensoren besonders erboste. Ausgesprochen keck tritt in diesem Film auch der Betriebsdirektor auf, der sich offen dazu bekennt, dass er Lügen gerne dazu benutzt, um Anordnungen von oben, die auf Irrtümern beruhen, unschädlich zu machen. "Wenn sie mich anleuchten, bin ich schon verschwunden. Sie können mich wieder finden als Fixstern auf einer Kreisbahn in den entlegensten Gegenden der Galaxis ...Glauben Sie, ich bin so lange Direktor trotz meiner moralischen Verwerflichkeit? Wegen! Weil! Deshalb!"

"Wenn du groß bist, lieber Adam" ist ein modernes Märchen voller Charme und Ironie, über den problematischen Umgang mit der Wahrheit. Angeregt durch den tschechischen Film, vor allem durch Vojtech Jasnys "Wenn der Kater kommt", suchte Egon Günther nach phantastischen Figuren und Metaphern, um auf reale Missstände hinzuweisen. Das Experimentieren mit Farben, Formen, Gegenständen und Tönen lässt diesen Film auch heute noch zu einem wahren Genuss werden. Der Film konnte 1965 nicht fertig gestellt werden. Im Winter 1989/90 stellten Egon Günther und Monika Schindler eine rekonstruierte Fassung her. Fehlende Ton- und Filmsequenzen wurden durch Inserts ersetzt, in denen die Dialoge eingeblendet wurden.

BERLIN UM DIE ECKE

Produktion: DEFA-Studio für Spielfilm, Gruppe 'Berlin', DDR 1965/87/90 – Regie: Gerhard Klein – Buch: Wolfgang Kohlhaase – Kamera: Peter Krause – Darsteller: Dieter Mann, Monika Gabriel, Kaspar Eichel, Erwin Geschonneck, Hanns Hardt-Hardtloff u. a. – Länge: 88 Min. – s/w – Verleih: KJF (16mm)

Persönliche Integrität beim Einsatz für eine funktionierende Produktion steht in Gerhard Kleins Film "Berlin um die Ecke" im Mittelpunkt. Olaf und Horst sind Mitglieder einer Jugendbrigade eines großen Berliner Metallbetriebes. Sie nutzen die Schwachpunkte des Lohn- und Produktionssystems, um ihre eigene Lohntüte aufzubessern. Schließlich tricksen doch alle; sich gegenseitig etwas vorzumachen ist doch gang und gebe. Als der Schwindel auffällt, zeigen sie, dass es auch anders geht. Sie arbeiten wie im Lehrbuch und beweisen, dass noch viel mehr drin wäre, würden alle ihre sozialistische Pflicht tun. Wofür lohnt sich also die Aufregung der alten Männer über den alltäglichen Trott und den Schlendrian? Alte und junge Menschen, Verteidigung des Erreichten und Skepsis gegenüber dem Neuen, Machtdenken und Unbekümmertheit, Aufbau des Sozialismus und seine Gefährdung – all dies spielt eine Rolle, ebenso wie die profanen Dinge des Alltags: Schlipszwang und Lederjacken, enge Wohnungen und gescheiterte Beziehungen. Die Freunde Olaf und Horst gehen am Ende auseinander. Olaf und Karin werden ein Liebespaar ...

In "Berlin um die Ecke" wollte Gerhard Klein "ungeklärte Fragen ins öffentliche Bewusstsein rücken". Fragen, die die Lebensgefühle von Jugendlichen betrafen und ihre Versuche, einen Platz in der DDR-Welt zu finden. Damit knüpfte Klein an seinen "Berlin Filmen" aus den 50er-Jahren an, die bereits damals wegen ihrer stilistischen Nähe zum Neorealismus kritisiert wurden. Vor allem die realistische Darstellung des Arbeitslebens, der Denk- und Gefühlslage in diesen Jahren, der polemische Ton und die ungewöhnlich lockere, lässige und lebendige Atmosphäre erregten den Argwohn der Zensoren.

Heute stimmt "Berlin um die Ecke" ebenso wie die anderen "Verbotsfilme" wehmütig und nachdenklich zugleich. Was wäre, wenn diese Filme damals akzeptiert worden wären? Welchen Einfluss hätten die Filme, in denen eine offene Kritik gefordert wurde, auf die gesellschaftliche Diskussion nehmen können? Wie hätte sich die Arbeit der Autoren und Filmemacher weiterentwickelt? Es ist tragisch, dass die Filme in einer Zeit entstanden, in der "ungeklärte Fragen" eben nicht ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden durften. Umso aufschlussreicher sind sie für eine Generation, die sich erst jetzt in den Bildern wieder findet.

Irene Schoor

 

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