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Ausgabe 102-2/2005

DAS LETZTE VERSTECK

Produktion: Tag/Traum Produktion / WDR / Arte / SF DRS; Deutschland 2002 – Regie: Pierre Koralnik – Buch: Christoph Busch, nach dem Roman "Die Reise" von Ida Fink – Kamera: Grzegorz Kedzierski – Musik: Serge Franklin – Darsteller: Johanna Wokalek (Eva), Agnieszka Piwowarska (Irene), Cosma Shiva Hagen (Marysia), Katja Studt, Michael Brandner u. a. – Länge: 90 Min. – Farbe — Dt. Erstausstrahlung: 17. Oktober 2002, ARTE – Altersempfehlung: ab 12 J.

Die Endzeit des Nationalsozialismus, das Umfeld des Führers, die großen dramatischen Ereignisse sowie die Aktionen und Protagonisten des Widerstandes gehören zu den zentralen Themen des aktuellen deutschen Films im Kino und auf dem Bildschirm. Politisch engagiert, künstlerisch ambitioniert und bei Publikum und Presse erfolgreich. Da geht es um die großen Namen wie Stauffenberg oder Scholl und Begriffe wie NAPOLA, um den historischen Untergang im Führerbunker, um dem Bombenkrieg auf Dresden und so weiter. Weitere Filme dazu und zu Ereignissen der Nachkriegszeit sind bereits abgedreht oder in Vorbereitung.

Gegenüber dieser beeindruckenden und überwältigenden Bilderflut in allen Medien haben es 'kleinere' Filme, die nicht so spektakuläre Geschichten erzählen oder nicht mit prominenten Darstellern oder Stars aufwarten können, nicht so leicht. Der Film "Das letzte Versteck" beispielsweise, der eine vergleichsweise kleine, private Geschichte erzählt, ist ebenfalls historisch verbürgt, aber die Protagonisten zählen eben nicht zu den rühmlichen oder unrühmlichen Namen der deutschen Geschichte. Entsprechend enttäuschend ist daher auch die bisherige Resonanz auf den Film, der seine große Fachöffentlichkeit noch erreichen muss.

"Das letzte Versteck" beruht auf dem Buch "Die Reise" von Ida Fink, geb. 1921 in Zbaraz / Polen. Während der deutschen Besatzung lebte sie im Ghetto ihrer Geburtsstadt und flüchtete mit einer falschen "arischen" Identität nach Deutschland, wo sie als polnische Zwangsarbeiterin dem Holocaust entkam.  Am Anfang des Films sehen wir Dokumentaraufnahmen mit Ida Fink (aufgenommen in Tel Aviv, 2002), die kurz in das Geschehen einführt und die authentischen Bezüge des Films zu ihren eigenen Erlebnissen bezeugt.

Polen im Juli 1941. Eva und Irene (später: Katarzyna und Elzbieta) sind 18 und 20 Jahre alt. Wir sehen sie gutgelaunt, beinahe übermütig vor einem Fotografen posieren. Eine heitere Sommerstimmung wird durch den Einmarsch deutscher Soldaten hart gebrochen. Die Idylle wird zerstört, der Himmel verdunkelt sich. Vor den Soldaten, die nach Juden suchen, verstecken sich die Mädchen in einer Scheune. Dies ist ihr 'erstes Versteck'. Der Vater, ein Arzt, sorgt dafür, dass seine Töchter unter der Identität als arische Polinnen nach Deutschland reisen können, da dies "das beste Versteck" – so der Vater – für sie ist. Er hat arrangiert, dass sie 'freiwillig' reisen können und bereits eine Arbeitsstelle haben. Zwei windige Ganoven durchkreuzen diesen Plan und das Unternehmen droht schon in der Startphase zu scheitern. Mit viel Glück gelangen sie trotzdem in den Zug mit den Zwangsarbeiterinnen, der sie nach Deutschland bringt. Den Platz im Waggon teilen sie sich mit anderen jungen Mädchen und Frauen, deren Konflikte untereinander nicht lange verborgen bleiben. Offensichtlich gibt es auch noch andere Jüdinnen; gleichzeitig sind es aber auch einige polnische Mädchen, die durch Vorurteile und antijüdische Parolen auf sich aufmerksam machen.

Im Herbst 1941 kommen sie im Ruhrgebiet an und werden gemeinsam mit ca. zwei Dutzend Frauen und Mädchen einer Maschinenfabrik zugeteilt. Die Arbeit in den Werkhallen und an den reparaturanfälligen Maschinen ist nicht ungefährlich, doch der Alltag im Arbeitslager normalisiert sich. Aber je länger der Aufenthalt dort andauert, desto größer wird die Gefahr, entdeckt zu werden. Rivalitäten, Eitelkeiten und Konkurrenzdenken der Frauen untereinander nehmen zu und lassen eine alsbaldige Flucht ratsam erscheinen. Gemeinsam mit ihrer Schicksalsgefährtin Marysia, die sich den Schwestern angeschlossen hat, wird die Flucht geplant. Das Vorhaben gelingt, doch in dem Zug nach Frankfurt am Main werden scharfe Kontrollen durchgeführt. Den Mädchen bleibt nichts anderes übrig als aus dem Zug zu springen. Glücklicherweise landen sie kurz danach bei einem Weinbauer, der dringend Arbeitskräfte braucht, da die Männer alle an der Front sind. Katarzyna, Elzbieta und Marysia werden auf unterschiedliche Höfe verteilt und erst bei der Weihnachtsfeier treffen sie sich wieder.

Die Phase von Sicherheit und Geborgenheit ist aber nur sehr kurz. Da Marysia entdeckt wurde, müssen die Schwestern überhastet fliehen und in den Wäldern Zuflucht suchen. Im Zustand totaler Verzweiflung und Ermattung irren sie umher, raffen aber alle ihre Kräfte zusammen, um ein "letztes Versteck" aufzutun. Sie landen auf einem Rheindampfer, finden dort Arbeit. Eine ausgelassene Gesellschaft, der Partei und dem Führer huldigend, macht rheinaufwärts eine Tour, die kurz vor der Schweizer Grenze durch einen Fliegeralarm empfindlich gestört wird. Die Schwestern spüren nun, dass sich das Ende ihrer "Reise" anbahnt, die Rettung naht. Eva und Irene überleben in der Schweiz. Jahre nach Kriegsende finden sie ihren Vater in Polen wieder.

"Das letzte Versteck" ist nicht nur eine spannende Fluchtgeschichte vor historischem Hintergrund, sondern auch das überzeugende Porträt der beiden Schwestern Eva und Irene, die nicht immer einer Meinung sind und unterschiedliche Wege gehen wollten. Eva wollte studieren, hinaus in die Welt; Irene wollte die Nachfolge ihres Vaters antreten. Sie waren nicht auf einer Wellenlänge und müssen sich nun zusammenraufen, um gemeinsam alle Widrigkeiten zu überwinden. Immer wieder gibt es kleinere Spannungen, wenn die Ansichten auseinander gehen oder Kräfte und Energien unterschiedlich verteilt sind. Ein paar Mal stoßen sie an die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Heimweh, Sehnsucht, Schmerz und Tränen sind die Gemeinsamkeiten, die den Zusammenhalt festigen. Eva ist die stärkere Persönlichkeit, die ihre Schwester leitet und mitreißt. In einer entscheidenden Situation aber, in der Eva sich aufgeben will, erweist sich Irene als diejenige, deren Lebenswille noch nicht gebrochen ist.

Insofern ist "Das letzte Versteck" ein Film, der neben den abenteuerlichen Erlebnissen auch eine Reise in das Innenleben der beiden Mädchen ist: In den Schwebezustand zwischen Bangen und Hoffnung. Wie lernt man Lügen im Moment drohender Entlarvung? Wie verändert sich die eigene Wahrnehmung unter der falschen Identität? Angst, Einsamkeit und Verzweiflung sind die eine Seite, Hoffnung, Wachsamkeit und Verstellung die andere Seite dieses Überlebenskampfes. Hier reichen kurze Andeutungen aus, um auch diese Anspannungen sichtbar zu machen. Aber das Band zwischen ihnen zerreißt nicht. Trotzdem ist es bewundernswert, dass sie – wenn auch mit viel Glück – unentdeckt blieben und den Kontrollen der uniformierten Nazischergen sowie den argwöhnischen Augen mancher Zivilisten entkommen.

Die beiden Schauspielerinnen Johanna Wokalek (als Eva) und Agnieszka Piwowarska (als Irene) überzeugen in jeder Phase des Films; besonders dann, wenn sie sich nur durch Blicke oder kleine Gesten miteinander verständigen können. Eine Leistung, die nicht hoch genug bewertet werden kann und die leider noch nicht die verdiente Anerkennung gefunden hat. "Das letzte Versteck", eine WDR-, Arte- und DRS-Produktion, hat über die TV-Ausstrahlung hinaus noch keine weitere Medienöffentlichkeit gefunden. Nicht zuletzt der engagierte Produzent Gerd Haag von Tag/Traum Filmproduktion (u. a. "Die Lok" und "Swetlana") würde es begrüßen, wenn dieser Film für den Unterricht in den Schulen und die politische Bildungsarbeit mit Jugendlichen so schnell wie möglich zugänglich wäre.

Horst Schäfer

 

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