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Ausgabe 106-2/2006

REQUIEM

Produktion: 23/5 Filmproduktion / SWR, Arte, WDR und BR; Deutschland 2006 – Regie: Hans-Christian Schmid – Buch: Bernd Lange – Kamera: Bogumil Godfrejow – Schnitt: Hansjörg Weißbrich, Bernd Schlegel – Darsteller: Sandra Hüller (Michaela Klingler), Burghart Klaußner (Karl Klingler), Imogen Kogge (Marianne Klingler), Friederike Adolph (Helga Klingler), Walter Schmidinger (Gerhart Landauer), Jens Harzer (Martin Borchert) u. a. – Länge: 92 Min. – Farbe – FSK: ab 12 J. – Verleih: X Verleih – Altersempfehlung: ab 14 J.

Anfang der 1970er-Jahre unternimmt eine junge Frau aus einem kleinen Ort auf der Schwäbischen Alb erste Abnabelungsschritte von ihrem konservativen, katholischen Elternhaus. Die Mutter ist sehr streng und überfürsorglich, der Vater liebevoll und vor allem um Harmonie bemüht. Michaela hat einen Studienplatz für Pädagogik in der quirligen Universitätsstadt Tübingen erhalten, blüht in der ungewohnten Umgebung förmlich auf, findet bald eine Freundin aus demselben Heimatdorf und sogar einen Freund, mit dem sie erste zögerliche Annäherungsversuche an das andere Geschlecht wagt. Von anderen Jugendlichen ihres Alters unterscheidet sich Michaela vielleicht nur dadurch, dass sie seit ihrer Pubertät unter schwerer Epilepsie leidet und durch diese Krankheit in ihrer Sozialentwicklung etwas zurückgeworfen ist, auch in ihrer Schulzeit oft krank war.

Auf einer Wallfahrt mit ihren Eltern nach Italien zur Heiligen Katharina, die Michaela als großes Vorbild verehrt, bricht die Krankheit nach längerer Latenzphase erneut aus und Michaela fühlt sich immer mehr von Teufelsfratzen und fremden Stimmen verfolgt. Weitere Anfälle entstehen vor allem in Konfliktsituationen mit den Eltern und in Konfrontation mit ihren erwachenden sexuellen Bedürfnissen. Michaela möchte sich aber weder in psychiatrische Behandlung begeben, wie ihr die Freundin rät, noch findet sie in ihrer Umgebung wirkliches Verständnis für ihre "Erscheinungen". In ihrer inneren Not wendet sie sich an ihren Dorfpfarrer, der ihr keine Hilfe ist, ebenso wenig wie ein um Rat hinzugezogener junger Priester. Michaela steigert sich schließlich in eine Arbeitswut hinein, die in einem seelischen Zusammenbruch endet und in der Sinn gebenden Vorstellung gipfelt, mit ihrer Krankheit habe sie eine Sühne zu leisten. Vielleicht deshalb weigert sie sich weiterhin, einen Arzt aufzusuchen. Zurück im Elternhaus werden ihre Anfälle immer heftiger und sogar ihr Vater glaubt schließlich an eine dämonische Besessenheit. Die herbeigerufenen beiden Priester nehmen mit ihrer Einwilligung schließlich einen tödlich endenden großen Exorzismus vor, der im Film aber nicht mehr gezeigt wird.

Mit religiösen (Wahn-)Vorstellungen hat sich Hans-Christian Schmid bereits in seinem Dokumentarfilm "Mechanik des Wunders" (1992) und in seinem Sektenfilm "Himmel und Hölle" (1994) beschäftigt, bevor er sich mehr Coming-of-Age-Geschichten zuwandte wie "Nach fünf im Urwald" (1995) oder "Crazy" (2000). Beide Themen verknüpft er in seinem neuen Film "Requiem", der sich auf den authentischen Fall von Anneliese Michel aus dem unterfränkischen Ort Klingenberg bezieht. Der Vorspann stellt allerdings klar, dass "die Figuren und die Handlungen frei erfunden" sind. Was sich seinerzeit in Klingenberg zugetragen haben mag, kann also nicht als Interpretation oder gar als Erklärung für den Film dienen. Zugleich verweigert sich Schmid konsequent jeglichen Erwartungshaltungen an einen Exorzismusfilm, zeigt weder Horrorbilder oder die Angst einflößenden Visionen der jungen Frau, noch spekuliert er mit Bildern eines wie auch immer durchgeführten Exorzismus.

Zur Diskussion über den Sinn oder Unsinn dieses so genannten Exorzismus ist "Requiem" also nicht geeignet. Darauf verweist bereits die filmische Gestaltung im Cinemascope-Format, die das Lebensumfeld der Figuren einbezieht, und Handkamera, die immer dicht an der Protagonistin dranbleibt und ihre Verzweiflung unmittelbar spürbar macht. Sandra Hüller in der Rolle von Michaela leistet hier Hervorragendes und hat für ihre Darstellung vollkommen zu Recht sowohl den Bayerischen Filmpreis 2005 als auch den Silbernen Bären 2006 in Berlin erhalten.

"Requiem" ist eine Art Totenmesse, ein Nachruf auf die echte Anneliese Michel, aber aus heutiger Sicht. Er gibt keine einfachen Antworten und Erklärungen, ist offen für unterschiedliche Interpretationen und regt gerade dadurch zur Auseinandersetzung an: etwa über die Mitverantwortung aller Beteiligten an diesem Drama, das sich keineswegs auf eine mögliche Schuld der Kirche beziehungsweise der Priester reduzieren lässt, über Kommunikationsformen in der Familie und den Umgang mit Andersdenkenden und allen Menschen mit geschlossenen Weltbildern, über die Situation von Jugendlichen auf ihrer Suche nach einem eigenen Leben allemal.

Dabei sollte man es sich nicht zu einfach machen und meinen, mehr als 30 Jahre später könnte so etwas nicht wieder passieren. Wie steht es denn heute mit dem Gefühl der Hilflosigkeit auf Seiten von unmittelbar Betroffenen, wenn sie mit sich und dem Leben nicht zurechtkommen, sie weder durch die täglichen Talkshows noch durch die Flut von Lebensratgebern auf dem Büchermarkt Hilfe finden? Die Suizidrate unter Jugendlichen ist auch ohne Exorzismuswahn und Sühnebesessenheit hoch. Wäre wirklich alles gut ausgegangen, wenn Michaela rechtzeitig medizinische Hilfe in Anspruch genommen hätte? Vielleicht, aber was ist mit den Fällen, in denen die Psychiatrie außer Elektroschocks und Psychopharmaka nichts zu bieten hatte, in denen Ärzte falsche Diagnosen stellten, was mit den Drogensüchtigen, deren Tod die Angehörigen und Freunde nicht verhindern konnten und ohnmächtig daneben standen? In der Art und Weise wie Hans-Christian Schmid sich dem historischen Filmstoff nähert, sind einfache Antworten fehl am Platz.

Holger Twele

 

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