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Ausgabe 106-2/2006

4:30

Produktion: Zhao Wei Films / NHK Enterprises Inc.; Singapur/Japan 2006 – Regie: Royston Tan – Buch: Royston Tan, Liam Yeo – Kamera: Lim Ching Leong – Schnitt: Hwee Ling Low – Musik: Vichaya Vatanasapt – Darsteller: Kim Young Jun (Jung), Xiao Li Yuan (Xiao Wu) u. a. – Länge: 93 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Celluloid Dreams, e-mail: michael@celluloid-dreams.com – Altersempfehlung: ab 14 J.

Ein Junge in einem Zimmer. Es ist Nacht. Sein Mobiltelefon dient ihm als Taschenlampe, mit der er die Gegenstände im Raum untersucht: Reste eines Nudelgerichts, Bierdosen, Zigaretten und schließlich einen Mann, der auf dem Bett liegt und schläft. Ganz nah muss er an ihn herantreten, damit er überhaupt etwas erkennen kann; das Mobiltelefon spendet nur wenig Licht. Nacht für Nacht besucht der Junge das Zimmer und den schlafenden Mann. Dass dieser nicht aufwacht, liegt wahrscheinlich daran, dass er betrunken ist. Nicht selten schläft er im Anzug auf dem Bett ein. Die Beute der kindlichen Expeditionen: Bilder vom Mann, die er in sein Schulbuch malt. Jede seiner Eintragungen versieht der Junge mit dem Datum des Tages.

4:30 Uhr ist eine sehr einsame Stunde der Nacht, und diese Uhrzeit hat sich der elfjährige Xiao Wu ausgesucht, um dem fremden Mann in seiner Wohnung nahe zu sein. Einmal macht der Junge mit seinem Handy ein Foto von ihm und noch eins, auf dem sie gemeinsam zu sehen sind. Das Foto des Mannes klebt er über das Foto eines Krebspatienten, das auf einer der herumliegenden Zigarettenschachteln vor den Folgen des Rauchens warnt. Der junge Mann hängt nicht besonders an seinem Leben. Das erfahren wir nicht nur durch das ununterbrochene Rauchen.

Die Tage sind ähnlich einsam wie die Nächte, denn der Mann und Xiao Wu reden nicht miteinander. Einer der wenigen Dialoge des Films findet früh morgens am Telefon statt, als die abwesende Mutter ihren Sohn fragt, wie es mit dem koreanischen Untermieter geht. Die Mutter hat geschäftlich in China zu tun. Wann sie zurückkommt, weiß sie nicht. Wie um seine Einsamkeit noch zu verstärken, geht Xiao Wu danach nicht mehr ans Telefon, wenn es in den frühen Morgenstunden kurz vor Schulbeginn läutet. Durch das gemeinsame Wohnen und die Sprachlosigkeit, in der es stattfindet, lässt sich die Geschichte von "4:30" als gegenseitige Spiegelung zweier einsamer Leben erzählen. Nicht nur der Junge, auch der Mann ist einsam: Ein zerrissenes Foto zeigt eine zerbrochene Beziehung. Die Spiegelbildlichkeit der beiden Figuren potenziert sich, wenn das Kind den Mann nachzuahmen versucht. Diese Nachahmung weckt die Aufmerksamkeit füreinander. Bevor jedoch so etwas wie Nähe entstehen kann, setzt sich das langsame Leben fort und mit ihm die Einsamkeit. Das Kind – im Gegensatz zum Mann – arbeitet mit kleinen alltäglichen Ritualen dieser Einsamkeit entgegen. Jeden Tag kreuzt Xiao Wu auf dem Weg zur Schule einen Park, in dem eine Gruppe älterer Menschen Tai Chi trainiert. Jeden Tag stellt er etwas mit ihrer Musik an: Einmal wechselt er ihre CD gegen die des Untermieters aus. Wieder hält der Film für einen kurzen Augenblick inne, als bräuchte der Junge auch hier einen Beweis – jetzt aber für seine eigene Existenz.

Nur einmal sind sie sich wirklich nah, der Junge und der Mann. Der Mann spricht zu dem Kind. Es ist Nacht, sie sitzen im Treppenhaus außerhalb der Wohnung. Was er sagt, versteht Xiao Wu nicht, denn sie sprechen nicht die gleiche Sprache. Allein ihre Körper drücken Vertrautes aus. Sie weinen, denn sie wissen voneinander, wie einsam sie sind. Am nächsten Morgen sehen wir, wie Xiao Wu Orangen auspresst und das Glas Saft vor die Tür des Mannes stellt. Endlos dehnen sich in der kindlichen Wahrnehmung die Stunden, in denen Xiao Wu darauf wartet, dass der Mann aus seinem Zimmer kommt. Das Warten ist wie eine Bestätigung dafür, dass der Junge jetzt wirklich allein ist. Das Zimmer ist leer, der Mann verschwunden.

Mit den Mitteln des Films macht "4:30" sichtbar, was Einsamkeit und was Sehnsucht ist, und reflektiert dabei auch das Kino selbst: Das Sammeln von Bildern als Ergebnis einer genauen Beobachtung, das Wechselspiel von Realität und Fiktion, in der den Sehnsüchten und Träumen Ausdruck verliehen wird. Am Ende des Films sehen wir Xiao Wu zu, wie er die Fenster der Wohnung schwarz anmalt. Schwarz, das sagt er einmal zu seiner Lehrerin, ist die Farbe seiner Träume. Der Film "4:30" siedelt das Kino auf gleicher Höhe mit der Erfahrung des Kindes an. Dass Kinder sich selbst überlassen werden, sei in Asien keine Seltenheit mehr, sagt der Regisseur nach dem Film. Auch dass das Kino sich dieser Kinder annimmt, ist nicht das erste Mal. "Nobody knows" von Hirokazu Kore-eda (2004) erzählt in ähnlich einfacher Weise davon, wie vier Kinder allein in einer kleinen Wohnung ums Überleben kämpfen. Eins von ihnen schafft es nicht.

Stefanie Schlüter

 

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KJK-Ausgabe 106/2006

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