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Ausgabe 114-2/2008

DIE WELLE

DIE WELLE

Produktion: RatPack Filmproduktion GmbH in Co-Produktion mit Constantin Film Produktion – Deutschland 2007/2008 – Regie: Dennis Gansel – Drehbuch: Dennis Gansel und Peter Thorwarth; nach Originalprotokollen und der Kurzgeschichte von William Ron Jones sowie dem TV-Drehbuch "The Wave" von Johnny Dawkins und Ron Birnbach – Kamera: Torsten Breuer – Schnitt: Ueli Christen – Darsteller: Jürgen Vogel (Rainer Wenger), Frederick Lau (Tim), Max Riemelt (Marco), Jennifer Ulrich (Karo), Christiane Paul (Anke Wenger) u. a. – Länge: 107 Min. – Farbe – FSK: ab 12 – Verleih: Constantin – Altersempfehlung: ab 14 J.

Da dieser Film sehr unterschiedliche Reaktionen ausgelöst hat, gleichwohl in der Bildungsarbeit – mit Recht – starke Berücksichtigung findet (z. B. werden die ersten Schulkinowochen in Bayern im April 2008 mit diesem Film eröffnet), bringen wir im folgenden zwei Filmkritiken, die stellvertretend für das Spektrum der Betrachtungen stehen.

I.

Diktatur, Faschismus, Drittes Reich – das wäre doch heute bei uns nicht mehr möglich, kommentieren die Schüler gelangweilt das Thema "Autokratie", das in der Projektwoche für die 10. Klasse ansteht. Ihr Lehrer Rainer Wenger tritt den Gegenbeweis an und startet ein Experiment: Ab sofort stehen Gehorsam und Disziplin auf der Tagesordnung. Zur Überraschung des liberalen Lehrers machen die Schüler begeistert mit bei den Drillübungen, die scheinbar die allgemeine Lernfähigkeit und -bereitschaft steigern. Kaum einer protestiert gegen das autoritäre System oder stellt die neuen Regeln in Frage. Im Gegenteil, immer mehr Schüler des Gymnasiums schließen sich der "Welle" an – das Experiment verselbständigt sich zur Bewegung mit eigenem Gruß, Logo und uniformen weißen Hemden. Andersdenkende werden ausgegrenzt, es kommt zu diversen Übergriffen. Spät, zu spät, reagiert Rainer Wenger, um "die Welle" aufzuhalten.

1967, an einer High School im kalifornischen Palo Alto: Im Geschichtsunterricht zum Thema Nationalsozialismus kommt die Frage auf, wie Faschismus und die Leugnung der Ereignisse im Dritten Reich möglich waren. Der Geschichtslehrer William Ron Jones reagiert mit einem Unterrichtsversuch: "The Third Wave" fordert von den Schülern absoluten Autoritätsgehorsam. Die Bewegung greift auf die ganze Schule über, dreihundert Schüler machen bereitwillig alles mit, inklusive Verrat und Schlägereien mit Andersdenkenden. Nach fünf Tagen bricht Jones das Experiment schließlich ab.

Morton Rhues Roman "Die Welle" von 1981 ist ein Jugendbuchklassiker und bis heute beliebte Unterrichtslektüre. Der gleichnamige amerikanische Fernsehfilm, ebenfalls von 1981, wurde unter anderem mit einem Emmy ausgezeichnet. Ron Jones selbst hat eine Kurzgeschichte über sein Experiment veröffentlicht.

Gut vierzig Jahre nach dem Experiment haben sich nun also RatPack-Produzent Christian Becker und seine Freunde seit Münchener Filmhochschultagen, Dennis Gansel und Peter Thorwarth, der wahren Geschichte angenommen und sie ins heutige Deutschland verpflanzt. Etwa ein peinlicher Neuaufguss? Eine typisch (film-)deutsche Betroffenheitsstudie zum Thema Faschismus? Weit gefehlt. Was das Drehbuch von Gansel und Thorwarth aus den Originalaufzeichnungen und der Kurzgeschichte des Lehrers Jones sowie aus dem US-Teleplay kreiert, ist besser als sämtliche Vorlagen.

"Die Welle" ist eine zeitgemäße und bis ins kleinste psychologische Detail durchdachte Adaption der unverändert brisanten Fragestellung, wie Faschismus funktioniert. Figurenarsenal und Besetzung, Kamera, Schnitt und Ausstattung drücken ein- und dieselbe Qualität des Films aus: Authentizität. Wie aus der Wirklichkeit gegriffen erscheinen die Figuren, deren stimmige Dialoge sich keiner Pseudo-Jugendsprache bedienen. Der Ort der Handlung, ein durchschnittliches Gymnasium in einer fiktiven deutschen Großstadt, unterstreicht die Allgemeingültigkeit der Ereignisse. Auch die Ausgangssituation, Geschichtsverdrossenheit versus Aufklärung über das Thema Nationalsozialismus und Drittes Reich, ist Realität (nicht nur) an unseren Schulen. Der Film beweist viel Gespür für die Befindlichkeiten seiner jugendlichen Charaktere und ihre sozialen Backgrounds. Das allgemeine Bedürfnis nach Inhalten, nach Identifikation und Engagement bildet die Basis für die Begeisterung an der Bewegung. In der vermeintlichen Gleichheit wird die alte Hackordnung aufgelöst, werden die Karten neu und scheinbar gerechter und vorurteilsfrei verteilt. Das einst populäre Paar Marco und Karo gerät in eine Krise. Karo, das bisher beliebteste Mädchen an der Schule, wird ausgeschlossen, während die ewige Zweite, Lisa, aus ihrem Schatten tritt. Die größte "Karriere" macht Tim, hervorragend gespielt von Frederick Lau: Aus dem ausgenutzten Außenseiter wird ein aktives Mitglied der Bewegung, das erstmals Zusammenhalt erfährt, selbst als grenzwertiger Gehorsamserfüller. Gruppenzwang und Mitläufertum sind weitere Ausprägungen im Prozess der allgemeinen Manipulation. An der Figur des sympathischen Lehrers Rainer Wenger, kongenial besetzt mit Jürgen Vogel, ist die eigene Verführbarkeit am eindringlichsten zu verfolgen. Wenn aus dem unangepassten Anarcho-Kumpeltyp "Rainer", der sich von seinen Schülern duzen lässt, der autoritäre "Herr Wenger" wird, ist nicht zu erkennen, wann der schmale Grat überschritten ist – nicht für ihn selbst und auch nicht für den Zuschauer.

Was passieren kann, wenn Zugehörigkeitsgefühl höher eingeschätzt wird als die Freiheit des einzelnen, wenn auswendig gelernte Parolen die eigene Meinung ersetzen und eine aufrechte Sitzhaltung das Rückgrat, spielt "Die Welle" konsequent bis zur drastischen und sicher nicht unumstrittenen Schlusspointe durch. Doch gerade damit hat der Film sein jugendliches Publikum im Blick und stiehlt sich nicht aus der Verantwortung. Die Auflösung im wirklichen Experiment und im Roman – Bilder von Adolf Hitler lassen die Schüler erkennen, auf welchen Führer ihrer "Jugendbewegung" sie warten – würde hier und heute nicht mehr funktionieren. So reißt einen "Die Welle" mit, lehrreich ohne erhobenen Zeigefinger – eben so, wie es Rainer, nicht "Herr Wenger" machen würde.

Ulrike Seyffarth

II.

Halten die Macher dieses Films, der Produzent, die Autoren und der Regisseur, eine Clique deutscher Abiturienten hier und heute wirklich für so dumm, dass sie sich innerhalb einer Woche von gewöhnlichen Mittelschichtkindern in einen tumben, grölenden Mob ummodeln lässt? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber Film ist Film und man kann an dieser Stelle einwenden, dass es sich hier ja nur um ein Modell nach klar formulierten Parametern handelt. Ein Modell? Ein Modell wofür?

Jedenfalls nicht für die Anfälligkeit Jugendlicher gegenüber Verführern aus der Szene der faschistischen Rechten, deren Ziele und Inhalte hier erstaunlicherweise inhaltsleer bleiben und nicht hinterfragt werden. In dem Film "Die Welle" jedenfalls wird weder verführt noch überzeugt. Die Mädchen und Jungen in dieser Klasse – einschließlich der Mitläufer aus den anderen – verhalten sich durchweg wie Stereotypen und nicht wie normale Jugendliche. Sie sind eng einer Konzeption unterworfen, sind unmündig, reden nur drehbuchgerechte Dialoge und geben immer dann die richtigen Stichworte, um die Eskalation des Geschehens auf den nächsten Level zu bringen.

Tim ist von Anfang an der geborene Loser und ist folglich auch das finale Opfer. Karo ist und bleibt die skeptische Aufständische, die sympathische Antagonistin zu dem 'Führer', und Marco entspricht ganz dem genreüblichen Klischee des attraktiven, netten und unpolitischen, an Sex und Sport interessierten Jungen von nebenan – der umschwärmte Traum aller Schwiegermütter, wie er in allen High-School- oder Teenagerfilmen vorkommt. Alle Hauptfiguren, also die Protagonisten als Identifikationsangebot für die Jugendlichen als Zielgruppe des Films, sind synthetisch und nicht authentisch.

Anders ist es da mit dem Lehrer Rainer Wenger: ein frustrierter, unter Minderwertigkeitskomplexen leidender Rockertyp mit Alt-68er-Attitüden, der durch seine Motivations-Künste plötzlich die Aufmerksamkeit genießt, die er sonst nicht findet. Wenger wirkt glaubwürdig, ihm nimmt man seine Position und seine Veränderungen ab – ein Verdienst von Jürgen Vogel, dem exzellenten Schauspieler, der hier die anderen an die Wand spielt. Ihm gehören die ersten und die letzten Bilder des Films und es ist folgerichtig und verständlich, dass sich Handlungsabfolge und Kamera auf ihn fokussieren.

"Die Welle" ist also eine Jürgen Vogel-Supershow, die bei Pädagogen bestimmt gut ankommen wird. Sie finden sich in dem Film, in dem Milieu und den angeschnittenen Problemkreisen wieder. Als ein vor Konformismus und Kadavergehorsam warnender Film für Jugendliche ist "Die Welle" weniger überzeugend, da er diesem Publikum nicht die gleiche Sorgfalt zukommen lässt. Als ein Film über die Gefahren von Rechts- oder Linksaktivisten, von Drogenhändlern vor den Schultoren, von Fundamentalisten oder von Sektengurus, funktioniert er leider nicht. Hier wäre ein Perspektivwechsel richtig gewesen. "Die Welle" müsste heute aus der Sicht der Betroffenen erzählt werden. Ihre Charaktere müssten im Vordergrund stehen und die Anfälligkeit und Begeisterung für einen Typen wie Wenger müsste aus ihrer Sicht verständlich gemacht werden. So aber ist die Gelegenheit verschenkt, "Die Welle" zeitgemäß aufzubereiten und neben attraktiver Kinounterhaltung auch ein kleines Stück Anleitung zur Vorsicht und zum Misstrauen gegenüber solchen Verführungen zu vermitteln, denn diese finden wir ja nicht nur in der Polit-Szene, sondern auch in jugendkulturellen Strömungen von Lonsdale-Shirts bis hin zu Gewaltorgien mit dem Joystick.

Horst Schäfer

 

Bundesverband Jugend und Film e.V.DIE WELLE im Katalog der BJF-Clubfilmothek unseres Online-Partners Bundesverband Jugend und Film e.V.

 

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