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Ausgabe 118-2/2009

ICH SCHWÖR'S, ICH WAR'S NICHT!

C'EST PAS MOI, JE LE JURE!

Produktion: micro_scope inc., Montréal; Kanada 2008 – Regie: Philippe Falardeau – Drehbuch: Philippe Falardeau, nach zwei Erzählungen von Bruno Hébert – Kamera: André Turpin – Schnitt: Frédérique Broos – Musik: Patrick Watson – Darsteller: Antoine L'Ecuyer (Leon Doré), Catherine Faucher (Lea), Suzanne Clément (Madeleine Doré, Leons Mutter), Daniel Brière (Philippe Doré, Leons Vater), Gabriel Maillé (Jerôme Doré, Leons Bruder ) u. a. – Länge: 110 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Films Distribution Paris, Fax: +33 1 53103398, e-mail: info@filmsdistribution.com – Altersempfehlung: ab 12 J.

Leon Doré hat sich mit seinen zehn Jahren schon mehrfach umgebracht, und das nicht etwa aus Versehen oder Dummheit, sondern weil er sein Leben einfach nicht leiden kann. Er ist davon überzeugt, dass er von Geburt an kein normales Kind ist, und auch seine Familie wirkt erst dann fast normal, wenn sie sein nach alter Indianerlist strategisch gelegtes Feuer löscht. Sein älterer Bruder Jerôme nimmt es ihm übel, dass Leon für die meisten Spiele zu gefährlich ist und sie deshalb nie mit den Nachbarskindern spielen können. Der Vater macht Leons Mutter für dessen Verhalten verantwortlich, ein weiterer Anlass für ihre ständigen Ehestreitigkeiten. Allein Leons unorthodoxe Mutter versteht ihren Jüngsten, weiß aber auch nicht, wie sie ihn vor sich selbst schützen soll. Stattdessen lehrt sie ihn, dass schlimmer als lügen ist, schlecht zu lügen, und wirft auch mal an seiner Statt Eier aufs Dach der schrecklichen Nachbarin. Leons Welt bricht zusammen, als seine Mutter die Familie verlässt. Er will nicht wahrhaben, dass dies für immer ist. Lea, die zuhause von ihrem Onkel verprügelt wird, hilft Leon mit einem Plan, der ihn zu seiner Mutter nach Griechenland und sie selbst ihrem heimlichen Ziel näher bringen soll. Mit zehn lohnt es sich noch, ein neues Leben anzufangen. Aber es wäre das erste Mal in Leons Leben, wenn alles gut ginge und die Dinge so wären, wie sie scheinen.

Trotz der konsequenten Erzählweise aus der Sicht seines zehnjährigen Protagonisten hatte Regisseur Philippe Falardeau keinen Kinderfilm im Sinn. Basierend auf zwei Erzählungen von Bruno Hébert zeichnet Falardeaus Tragikomödie ein Sittenbild der (kanadischen) Gesellschaft Ende der 60er-Jahre, wo Scheidung Sünde und Schimpfwort ist. Schnell ist ein Regelverstoß begangen, der gute Ruf ruiniert. Während der – nur scheinbar – untadelige Vater als Familienoberhaupt auf Ordnung pocht und als Abgeordneter "das Land rettet", geht seine Familie vor die Hunde. Leons schöne, kreative Mutter erstickt förmlich an ihrer Rolle als Hausfrau und Politikergattin. Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt: ihre emotionale Unausgeglichenheit setzt sich in Leon fort. In der stummen Szene im Gemüsebeet, in der sie ihrem jüngsten Sohn tieftraurig in die Augen schaut, wird ihre seelische Verwandtschaft offenbar. Spielte die Geschichte im heutigen Amerika, Mutter und Sohn würden kurzerhand mit Prozac "genormt" werden.

Sehr präzise beobachtet und in kraftvolle Bilder umgesetzt ist diese erdrückende Vorstadtenge, die umso stärker von einem wilden Kind wie Leon empfunden wird. Wie er das Haus der selbstgefälligen, perfekten Nachbarsfamilie systematisch und skrupellos zerstört, das ist urkomisch und schockierend zugleich. Hier werden Grenzen überschritten, das sind keine harmlosen Dummejungenstreiche eines "Dennis the Menace" oder "Kevin allein zu Haus", so etwas macht kein normaler Junge. Ebenso drastisch handelt Leon gegen sich selbst, fügt sich ohne zu zögern schlimme Verletzungen zu, wenn es seinem Alibi dient, oder zieht den Sprung in den Tod einer weiteren Konfrontation mit dem wütenden Vater vor. Dieses (Selbst-)Zerstörerische ist Ausdruck seiner verzweifelten Sehnsucht nach Geborgenheit, Familie, Glück – nach all dem also, was ihm erst die ewig streitenden Eltern, dann die verlassende Mutter vorenthalten und das alle anderen Menschen scheinbar mühelos als Normalität erleben. Die Idylle trügt, wenn Leon und sein Vater gemeinsam am Klavier ein heiteres Duett spielen – wenig später werden die Söhne das Lügenkonstrukt des Vaters aufdecken, durch das die Familie dauerhaft verhindert bleibt.

In der gleichaltrigen Lea findet Leon eine Leidensgenossin, die sein Lebensgefühl, nicht normal zu sein, teilt. Die bedingungslose Freundschaft macht das Außenseiter-Dasein für beide erträglicher und sogar freudvoll. Doch auch dieses Glück ist nicht von Dauer. Als Folge ihrer gescheiterten Flucht werden Leas Familienverhältnisse durchleuchtet, ein Psychologe verbietet den weiteren Umgang mit Leon. Sogar mit der Wahrheit kann Leon Lea nicht mehr erreichen.

Trotz aller tragischer Komponenten vermag "Ich schwör's, ich war's nicht!" aufs Beste zu unterhalten. Das ist dem brillanten Zusammenspiel seiner jungen Darsteller zu verdanken sowie einem originellen Drehbuch mit starken Charakteren und unverbrauchten Bildern, die den abgründigen Humor umsetzen. Nach einem dramatischen Finale kriegt der Film sogar noch die Kurve zu einem versöhnlichen Ausblick, glücklicherweise ohne Happy End à la Hollywood – das wäre auch viel zu normal.

Ulrike Seyffarth

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 118-2/2009 - Interview - "Ich habe wirklich viel gelernt bei der Sektion Generation und dafür bin ich sehr dankbar!"

 

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