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Ausgabe 118-2/2009

DER JUNGE IM GESTREIFTEN PYJAMA

Produktion: Heyday Films Prod.; Großbritannien / USA 2008 – Regie: Mark Herman – Drehbuch: Mark Herman, nach dem gleichnamigen Roman von John Boyne – Kamera: Benoit Delhomme – Schnitt: Michael Ellis – Musik: James Horner – Darsteller: Asa Butterfield (Bruno), Jack Scanlon (Shmuel), Amber Beattie (Gretel), David Thewlis (Vater), Vera Farmiga (Mutter), Richard Johnson (Opa), Sheila Hancock (Oma), Rupert Friend (Leutnant Kotler), David Hayman (Pavel) u. a. – Länge: 94 Min. – Farbe – FSK: ab 12 J. – FBW-Prädikat: besonders wertvoll – Verleih: Walt Disney Studios Motion Pictures Germany – Altersempfehlung: ab 12 J.

Filme speziell zum Thema Holocaust und über die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten wie etwa "Die Sprungdeckeluhr" von Gunter Friedrich oder "Die Insel in der Vogelstraße" von Søren Kragh-Jacobsen, die sich nicht erst an Jugendliche, sondern schon an ältere Kinder richten und ihre Geschichte aus der Perspektive von Kindern selbst erzählen, sind noch seltener als die seltensten Edelmetalle. Einer der letzten, die sich an ein solch heikles Thema wagten, war Roberto Benigni mit "Das Leben ist schön", einem Film, der 1998 unter den Erwachsenen heftig umstritten war. Der britische Regisseur Mark Herman, der hierzulande durch "Brassed of – Mit Pauken und Trompeten" bekannt wurde, hat sich nun an die Verfilmung des nach seinem Erscheinen 2006 bis in die internationalen Bestsellerlisten gerückten Buches "Der Junge im gestreiften Pyjama" von John Boyne gewagt. Der irische Autor wurde erst 1971 geboren und hat wie nun auch der Regisseur seinen eigenen fiktionalen Zugang zum Thema in Form einer Fabel gesucht. Aus dem Blickwinkel eines "naiven" unschuldigen Kindes werden die Gräueltaten der deutschen Geschichte in Erinnerung gerufen, zugleich aber auch in eine zeitlose Botschaft transformiert, mit der es allein Kindern gelingt, den Hass der Erwachsenen ihrer Zeit und ihrer Umgebung zu überwinden und kulturelle wie ethnische Unterschiede zu überbrücken. Trotz der Verortung in den historischen Holocaust, aber ohne konkrete Bezugnahme auf ein bestimmtes Konzentrationslager, ein wahrhaft zeitloses Thema. Gedreht wurde der britische Film in Ungarn und mit derselben Produktionsgesellschaft, die auch für die "Harry Potter"-Verfilmungen zuständig ist.

Der achtjährige Bruno lebt Anfang der 1940er-Jahre zusammen mit seiner älteren Schwester Gretel und den Eltern in Berlin. Als der Vater, ein Nazioffizier, befördert wird, muss Bruno von seiner vertrauten Umgebung und seinen Freunden Abschied nehmen. Die ganze Familie zieht irgendwo aufs Land in ein abgelegenes, von Soldaten streng bewachtes Haus. Kein Spielkamerad weit und breit, selbst das eingezäunte Grundstück zu verlassen ist Bruno strengstens verboten und seine geliebten Abenteuerromane müssen auf Anweisung des strengen alten Hauslehrers nationalsozialistisch ausgerichteten Sachbüchern weichen. Während Gretel sich äußerst empfänglich für diese Ideologie zeigt und ihre Puppen bald gegen NS-Propagandamaterial eintauscht, setzt Bruno alles daran, die künstliche Enge des Hauses zu durchbrechen. Aus seinem Fenster, das kurze Zeit später von den Eltern verbarrikadiert werden wird, kann er hinter einem kleinen Wald einen eingezäunten Bauernhof erkennen, auf dem die Menschen alle einen gestreiften Schlafanzug tragen. Dort will er hin und als ihm das gelingt, findet er hinter dem Stacheldrahtzaun endlich einen gleichaltrigen Spielkameraden, der am Zaun gerade Schutt auf einer Schubkarre ablädt. Auch wenn Bruno nicht ganz versteht, warum Shmuel dort lebt und nicht einfach zu ihm kommen kann, freundet er sich spontan mit dem jüdischen Jungen an und kommt von nun an täglich an den Zaun.

Völlig überraschend begegnen sich die beiden Freunde Tage später im Haus von Brunos Eltern. Shmuel muss dort die schmalen Sektgläser für einen Empfang putzen. Als Bruno ihm heimlich etwas Kuchen zusteckt und ein junger Leutnant brutal dazwischen geht, verleugnet der eingeschüchterte Bruno jedoch seinen Freund. Er findet ihn erst Tage später erneut am Zaun, von Schlägen im Gesicht gezeichnet. Bruno möchte seinen Fehler wiedergutmachen, zumal er noch am gleichen Tag mit der Mutter abreisen wird, denn seine Eltern haben sich zerstritten, nachdem die Mutter zufällig die wirkliche Funktion des "Arbeitslagers" erkannt hat, aus dem immer so seltsam stinkender Rauch herüberzieht. Mit einer Schaufel gräbt Bruno ein Loch unter den Zaun, um auf der anderen Seite Shmuel bei der Suche nach seinem seit drei Tagen verschwundenen Vater zu helfen. In einem "Dokumentarfilm" (er erinnert in seiner Machart stark an den NS-Propagandafilm "Der Führer schenkt den Juden eine Stadt" über das KZ Theresienstadt), den Brunos Vater kurz zuvor hohen Militärs zeigte, konnte Bruno heimlich mit verfolgen, wie gut es die Bewohner hinter dem Zaun haben. Die beiden Jungen kommen gerade in die Baracke, als diese unsanft geräumt wird, damit sich die Insassen gemeinsam duschen können.

Ohne diese Schlussszenen, die in der systematischen Vernichtung der Juden durch Cyclon B zwar nicht bis ins letzte Detail gehen, an filmisch konstruierter und musikalisch verstärkter Dramatik durch die in Parallelmontage gezeigte verzweifelte Suche von Brunos Eltern nach ihrem Sohn aber dick aufgetragen wirken, wäre der Film auch schon für Zehnjährige zumutbar. So aber ist er frühestens ab 12 Jahren zu empfehlen und vorzugsweise mit pädagogischer Begleitung. In bemerkenswerter Konsequenz hält Mark Herman die naive Perspektive der beiden Jungen fast bis zum Schluss durch, die vieles von dem, was sich da vor ihren Augen und mit ihnen als unmittelbar Leidtragenden abspielt, nicht genau erklären und einordnen können, aber deutlich spüren, dass das unmöglich richtig sein kann. Für Shmuel, von dem kleinen Jack Scanlon in seiner ersten Filmrolle grandios verkörpert, kommen die existenzielle Angst und der tägliche Hunger hinzu, für Bruno, von dem bereits filmerfahrenen Asa Butterfield mit seinen neugierigen, hellwachen Augen nicht minder eindrucksvoll verkörpert, die dunkle Ahnung, dass der geliebte Vater unmittelbar mit daran schuld sein könnte. Diese Perspektive der Kinder ist so dicht und rundum überzeugend inszeniert, dass die der Erwachsenen dagegen verblasst und das Bemühen der Regie, einseitige Klischees zu vermeiden, mitunter störend wirkt: Der Film möchte eine Erklärung dafür liefern, warum liebende Familienväter zugleich herzlose KZ-Schergen sein konnten, zeigt Brunos Vater für einen SS-Offizier jener Zeit allerdings allzu harmlos und unmilitärisch. Und das Bild des "bösen Deutschen" wird fast schon ins Gegenteil verkehrt, wenn gleichzeitig Brunos Großeltern ideologisch vollkommen konträrer Meinung sind, seine Familie an der von der Mutter nicht hingenommenen Erkenntnis über die wahre Funktion des Lagers zerbricht und sogar der nassforsche Leutnant Kotler seinen Vater, der sich aus Protest gegen die Nationalsozialisten in die Schweiz abgesetzt hat, unter Gefährdung seiner eigenen Karriere zu schützen versucht. Solchen Einwänden zum Trotz: Als Fabel funktioniert der Film, der seinesgleichen vergeblich sucht, und damit auch als unverzichtbare Mahnung wider das Vergessen.

Holger Twele

 

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KJK-Ausgabe 118/2009

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