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Ausgabe 120-4/2009

"Die Landschaft legt ihre Arme um die Personen."

Gespräch mit Armagan Ballentyne, Regisseurin, und Briar Grace-Smith, Drehbuchautorin der neuseeländisch-deutschen Koproduktion "Die Magie des Wassers" ("The Strength of Water")

(Interview zum Film DIE MAGIE DES WASSERS)

KJK: Was den Titel betrifft, könnte es auch heißen "Die Magie der Natur" oder "Die Magie der Landschaft" – aber in dem Gespräch nach der Vorführung haben Sie auf die Bedeutung des Wassers hingewiesen, die ihm von den Maori zugeschrieben wird. Können Sie, Frau Grace-Smith, das noch mal präzisieren? Sie sind ja selbst eine Maori, nicht wahr?
Briar Grace-Smith: "Ja. In unserer Kultur hat Wasser eine heilende und reinigende Wirkung – Wasser ist in den Tränen, es umgibt Neuseeland, das ja aus der Nord- und Südinsel sowie zahlreichen kleineren Inseln besteht und mitten im Süd-Pazifik liegt, und bei uns regnet es viel. Die einzigartige Bedeutung des Wassers in unserer Kultur spielte eine Rolle bei der Wahl unseres Titels. Aber jeder kann sich daraus auch eine andere Bedeutung herauslesen."
Armagan Ballentyne: "Wasser ist ja auch ein Sinnbild für ganz verschiedene Ebenen – es ist die Essenz für das menschliche Dasein, eine Voraussetzung für das Leben. Und durch das Wasser kommt Melody schließlich ins Jenseits, nach Hawaiki."

Das Paradies, oder?
Grace-Smith: "Das maorische, ja. Es ist das magische Ursprungsland, woher wir alle stammen."
Ballentyne: (lacht) "Ein guter Platz – ich meine, weil es bei den Maori keine Hölle, kein Fegefeuer gibt! Egal, was man angestellt hat. Es muss wunderbar sein!"

Man sollte Maori sein! Wie viele Maori gibt es eigentlich in Neuseeland?
Ballentyne: "Zwischen 560- und 650-Tausend, wenn man die Menschen mit maorischen Vorfahren mitrechnet. Es gibt in jeder Gemeinde mindestens ein maorisches Gemeindehaus‚ das 'meeting house', wie man es im Film gesehen hat. Dort treffen wir uns, um uns zu beraten, um unsere Feste zu feiern oder uns zu den Trauerzeremonien zu versammeln."

Wie ist das Leben für die Maori im heutigen Neuseeland?
Ballentyne: "Ich glaube, wir sind gerade dabei, uns klar zu machen, dass man ihnen ihr Land und ihre Sprache genommen hat, und zurzeit versuchen sie, sich ihre Identität, ihre Kultur, ihre Würde, zurück zu erobern. Es ist für sie schon besser geworden, aber es braucht halt Zeit."

Und Sie waren nun selbst so interessiert an deren magischer Kultur, dass Sie Ihren ersten Spielfilm mit Maori gedreht haben?
Ballentyne: "Am Anfang stand, dass Briar und ich Freundinnen wurden, und wir beschlossen, gemeinsam an einem Projekt zu arbeiten. Als Briar dann sagte, ich möchte gern über Maori schreiben, Maori-Charaktere entwickeln, fragte ich sie, ob sie kein Problem damit habe, wenn eine Pakeha, eine weiße Nicht-Maori, eine – Kolonialistin? (lacht) Genau – also, wenn ich bei diesem Stoff die Regie führe. Briar hatte keine Bedenken. Das machte mich glücklich und ich bin sehr dankbar, dass ich eingeladen wurde, in diese faszinierende Welt hineinzusehen. Ich mag es nämlich sehr, mit Autoren oder Autorinnen zusammenzuarbeiten, die mir eine neue Welt eröffnen und mir damit helfen, meinen Horizont zu erweitern."
Grace-Smith: "Ich bin sehr glücklich, dass die Geschichte hier in Deutschland verstanden wird, obwohl sie eine Maori-Geschichte ist."
Ballentyne: "Und zwar von Leuten jeden Alters – ich habe Väter, Mütter und Großmütter mit ihren Kindern und Enkeln gesehen, obwohl es ja ein Film mit Untertiteln ist. Ja, das ist das, was für uns Geschichtenerzähler am meisten zählt."

Wie sind Sie eigentlich auf diese Geschichte gekommen?
Grace-Smith: "Ich hatte schon lange verschiedene Ideen, Geschichten und Personen im Kopf. Während Armagan und ich drei Wochen an der West-Küste der südlichen Insel verbrachten, um herauszufinden ob und was wir vielleicht zusammen machen könnten, welche Themen uns interessieren und welche Filme uns gefallen, kamen sie alle zum Vorschein. Vor allem drängte sich ein zehnjähriger Junge auf, den ich vor ein paar Jahren kennengelernt hatte. Ein kräftiger, temperamentvoller Junge, der unbedingt Sumo-Ringer werden wollte, und mich jedes Mal, wenn ich durch die Tür kam, angegriffen hat. Zudem faszinieren mich Zwillinge, weil sie immer als Einheit agieren, dabei aber stets unterschiedliche Rollen einnehmen. Einer geht immer voran – so wie Melody, die selbstbewusster und überlegter ist als Kimi. Und natürlich fasziniert mich die Mythologie – ich versuche immer, das Magische in unserer Kultur am Leben zu erhalten, auch wenn es in unsere Zeit scheinbar nicht passt."

Sie haben auch für das Theater geschrieben – für ein maorisches Theater?

Grace-Smith: "Ja. Das Theater spielt bei den Maori eine sehr große Rolle – und ich bin damit aufgewachsen, zunächst als Schauspielerin, dann als Autorin. In unserer Tradition ist das Theater eine überkommene Form, um unsere Geschichten zu erzählen. Bei uns gibt es ja nur die orale Verbreitung unserer Geschichte, wir versuchen sie, durch die mimische Nachahmung und das vertiefende Gespräch zu bewahren. Da spielen Rhetorik, Tanz und Gesang eine wichtige Rolle. Aber wir haben daneben auch eine große künstlerische Tradition im Schnitzen von Holz und Nephrit, im Teppich-Knüpfen und Weben. Auch da werden die Geschichten der Vergangenheit dargestellt und bearbeitet. Man kann diese Arbeiten in den 'meeting houses' sehen. In dieser Tradition stehe ich, wobei ich besonders im Theater zu Hause bin. Da ist mein Ausgangspunkt, auch für  meine Film-Arbeit."

Ich bin sehr beeindruckt, mit wie wenig Dialog die Handlung auskommt. Von Anfang an wird das komplexe Geschehen auf das Notwendigste reduziert, ohne dass etwas für das Verständnis Wichtiges offen bleibt. Und diese Geschichte wird nicht nur mit dem gesprochenen Wort, sondern auch durch das Ungesagte vorangetrieben: durch Blicke, unaufdringliche Mimik und nicht zuletzt durch die Landschaft.
Ballentyne: "Wir haben sehr lange an dieser Geschichte gearbeitet, insgesamt etwa sieben Jahre, und viele Dinge sind im Laufe dieses Prozesses weggefallen. Fast alles, was die einzelnen Szenen wie den Dialog betrifft, war ursprünglich sehr viel breiter angelegt. Im Laufe der Arbeit haben wir uns beide dann immer wieder gefragt: Warum ist das so und nicht anders? Und Briar hat dann in mühevoller Kleinarbeit alles rausgeschmissen, was nicht unbedingt erforderlich war. Sie hat sich darauf konzentriert, das Wesentliche herauszufiltern, und das sind vor allem die Gefühle, die die verschiedenen Personen durchleben müssen. Ja, Briar hat alles beruhigt und auf die Essenz der verschiedenen Situationen reduziert. Und was die Landschaft betrifft: Sie haben vollkommen recht. Sie hat in unserem Film tatsächlich eine bestimmende Funktion, übernimmt eine wichtige und ganz eigene Rolle in der emotionalen Wirkung des Films, indem sie die Gemütsverfassung der jeweiligen Personen darstellt. Die Landschaft legt – sozusagen – ihre Arme um die Personen und dazu mussten wir ihr Zeit geben, anwesend zu sein. Und auch das Publikum sollte Zeit bekommen, über das nachzudenken, was da passiert, wenn man die Personen zum Beispiel in den Bergen oder am Meer sitzen sieht."

Wovon handelt eigentlich das Lied, das Melody die ganze Zeit singt?
Grace-Smith: "Sie singt vom Regen, erzählt, wie er den Himmel bewölkt und dann hernieder fällt, und jeder sich vor dem Regen versteckt. Und wenn der Himmel dann wieder klar ist, kommen auch wieder die Tiere zum Vorschein – für mich ist das Lied eine Metapher für das Leben, in dem es zwar immer Kummer und Leid gibt, aber auch Hoffnung."

Erzählen sie uns noch etwas über die Schauspieler?
Ballentyne: "Kimi und Melody sind miteinander verwandt, sie sind Cousin und Cousine aus einem ganz kleinen Ort im Nordteil Neuseelands, aus der Hokianga Region, wo wir auch gedreht haben, nachdem wir lange und in ganz Neuseeland nach ihnen gesucht haben. Sie wie auch die anderen jungen Leute haben in unserem Film ihre Chance bekommen und genutzt. Die Eltern von Melody und Kimi kannte Briar aus ihren Theater-Produktionen."

Soviel ich weiß, haben Sie das Script gemeinsam in einem Workshop von Sundance in Utah und mithilfe des Binger Instituts in Amsterdam entwickelt.
Ballentyne: "Ja – und wir können uns glücklich schätzen, dass es bei uns eine neuseeländische Film-Kommission gibt, die einen Fonds gegründet hat für Filme, die von Neuseeland erzählen, ohne dass sie profitorientiert sind. Das ist wirklich toll – ich meine, unsere Industrie ist im Verhältnis zu Amerika und Europa noch sehr jung, aber zum Beispiel Jane Campion, die das 'Piano' gedreht hat, kommt, auch wenn sie hier nicht mehr lebt, aus Neuseeland und hat eine Reihe weibliche Filmemacherinnen bei uns ermutigt. Oder nehmen wir Peter Jackson, der einige große Filme bei uns durchgesetzt hat und nun die Jüngeren unterstützt. Er macht uns auch Mut, mehr Risiken einzugehen."

Erzählen Sie beide bitte noch etwas über Ihren eigenen Hintergrund?
Ballentyne: "Ich liebe es Geschichten zu erzählen, das nimmt einen großen Teil in meinem Leben ein. 'The strength of water' ist mein erster Spielfilm – nach fünf Kurzfilmen, die auf Festivals in der ganzen Welt gezeigt wurden. Für 'Little Echo Lost', einen Kurzfilm von sechs Minuten, wurde ich 1999 in Australien mit dem 'Golden Award' und später noch mehrfach ausgezeichnet. Ich habe in Prag und in Sidney studiert – und bin schon immer gern gereist, weil ich sehr neugierig auf andere Leute und Länder bin. Und jetzt lebe ich mit meiner kleinen Tochter, die gerade fünf Monate alt ist, in Neuseeland quasi im Wald. Für mich ist das eine ganz neue Erfahrung, obwohl ich in Neuseeland geboren und aufgewachsen bin. Um ganz weit zurückzugehen, empfangen aber wurde ich in der Türkei. Daher heiße ich mit Vornamen Armagan – nach einer Frau, die meine Eltern sehr, sehr freundlich betreut hat, als sie in der Türkei auf Tournee waren. Mein Vater ist nämlich Musiker. Heute spielt er nicht mehr in der Band – aber früher waren wir viel unterwegs. Als ich sieben Jahre alt war, gingen meine Eltern mit mir zum Beispiel nach Amerika, dann sind wir im Wohnmobil durch ganz Mexiko gereist, also ich hatte eine sehr freie und freizügige Kindheit. Ich verdanke meinen Eltern ganz sicher das Zutrauen ins Reisen und eine gewisse Zuversicht."
Grace-Smith: "Ich gehöre zum Stamm der Napohi und habe immer am Meer gelebt. Mit meinem Mann und meinen vier Kindern lebe ich in einem Dorf namens Pai-kapiti, das liegt eine Viertelstunde mit dem Auto nördlich von unserer Hauptstadt Wellington, die wie unsere größte Stadt Auckland auf der Nordinsel liegt. Der wichtigste Platz aber, den ich liebe und zu dem ich jedes Jahr in meinem Leben wieder fahre, ist für mich das Land meiner Familie. Es liegt hoch im Norden, auf Fanaroru an einem ruhigen kleinen Hafen. Dort haben wir ein Zelt und verbringen einen ganzen Sommermonat am Meer, ich freue mich jetzt schon wieder darauf. Auch ich bin aufgewachsen mit lauter Geschichten, denn meine Mutter hat Kinderbücher geschrieben, die sind wohl auch in Deutschland erschienen. Und ich selbst liebe es Geschichten über Kinder zu erzählen, weil ich immer gut zugehört habe, wenn meine Kinder oder meine fünf Brüder sich unterhielten. Meine kleine Tochter ist jetzt drei und auch eine große Geschichtenerzählerin. Meine Mutter war eine Maori, mein Vater ein Pakeha, also ein weißer Neuseeländer, aber er war sehr ehrgeizig und hat die Sprache meiner Mutter gelernt, weil er Lehrer für Kinder war, die hauptsächlich maorischer Abkunft waren und er auch mit den Eltern seiner Schüler sprechen können wollte. Mir hat er damit vermittelt, dass ich sehr stolz auf meine Identität sein könne. Meine Mutter sowieso. Übrigens ist auch mein Schwager Wiremu Grace, ebenfalls ein Maori, hier auf der Berlinale mit einem Kurzfilm im Wettbewerb, sogar in der gleichen Sektion Generation Kplus: 'Kehua' heißt sein Film und er erzählt von einer Beerdigung, bei der ein Maori-Junge erstmals mit seiner eigenen Kultur konfrontiert wird."

Das Gespräch führte Uta Beth

 

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