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Ausgabe 63-3/1995

HERZOG ERNST

Produktion: Lutz Dammbeck / La Sept /Arte / WDR; Deutschland 1994 – Regie und Buch: Lutz Dammbeck, nach Motiven einer mittelalterlichen Sage – Animation: Herdis Albrecht, Olaf Ulbricht, Karl Müssig, Lutz Dammbeck u. a. – Kamera: Ernst Hammes, Katrin Magnitz – Schnitt: Margot Neubert-Marie – Musik: Manfred Schoof, J. U. Lensing – Sprecher: Wolf Dieter Sprenger – Länge: 45 Min. – Farbe – FSK: o. A. – Verleih: Silver Cine (35mm); Atlas (16mm) – Altersempfehlung: ab 8 J.

Der junge Ritter Herzog Ernst fällt einer Intrige des Kaisers zum Opfer, der nicht nur die Burg von Ernst, sondern auch dessen verwitwete Mutter zur Gattin haben will. Um sein Leben zu retten, zieht Ernst auf kaiserlichen Befehl mit anderen Rittern in den Orient, um den sagenhaften Karfunkelstein zu suchen. Als das Heer das gastfreundliche Volk der Agrippiner trifft, lässt der Anführer der Ritter ohne jeden Grund einen Agrippiner töten. Ernst rettet die schöne Agrippiner-Prinzessin Atessa, in die er sich verliebt hat. Diese begleitet ihn fortan auf der Reise und hilft ihm, alle Gefahren zu überstehen. Unterwegs begegnen sie seltsamen Gestalten wie dem Pannoch und dem kleinen Vogel Roch. Schließlich findet Ernst im Land des Kalifen den Karfunkelstein und kehrt mit Atessa und seinen neuen Freunden in die Heimat zurück, um sein Versprechen einzulösen. Dort erlebt er eine böse Überraschung.

Sieben Jahre lang hat der Grafiker, Maler und Regisseur Lutz Dammbeck an diesem außergewöhnlichen Projekt gearbeitet. Mehr als 100 große Landschaften, die größten im Format 70 mal 100 cm, wurden gezeichnet. Zwölf Animator(inn)en samt Assistent(inn)en fertigten 19.000 Einzelzeichnungen der Figuren an, die dann auf Zeichenpapier, statt wie sonst üblich auf Folie, umkopiert und schließlich einzeln koloriert wurden. Die Mühe hat sich gelohnt, fügen sich die Figuren doch sehr schön in die pastellfarbigen Hintergründe ein.

Der 45-minütige Zeichentrickfilm ist eine freie und ironisch gebrochene Bearbeitung des berühmten Volksbuchs "Herzog Ernst" aus dem 12. Jahrhundert. Die mittelalterliche Vorlage erzählt unter anderem von den Erlebnissen der Kreuzritter im Heiligen Land. Ihr historischer Kern bezieht sich auf einen Streit zwischen Kaiser Otto dem Großen und seinem Sohn Ludolf, der nach und nach überlagert wurde von dem noch tragischeren Konflikt zwischen Kaiser Konrad II. und seinem Schwiegersohn, dem Herzog Ernst II. von Schwaben. Die volkstümliche Sage wurde im Zuge jahrhundertelanger mündlicher Überlieferung von reisenden Spielmannsleuten mit zahlreichen orientalischen Wundergeschichten ausgeschmückt.

Lutz Dammbeck, geboren 1944 in Leipzig und bereits zu DEFA-Zeiten mit etlichen Animations- und Experimentalfilmen hervorgetreten, verfremdet die Sage in spielerischer Weise vor allem dadurch, dass er die Figuren durch surreale Landschaften mit phantastischen Lebewesen führt. In kunstgeschichtlicher Hinsicht beziehen sich die weiten, leeren Ebenen auf Gemälde von Dali und de Chirico, in filmgeschichtlicher Hinsicht erinnern die Fabeltiere an Verfilmungen von Michael Endes "Unendlicher Geschichte". In der Suche nach dem mysteriösen Karfunkelstein variiert er zudem die legendäre Suche ritterlicher Helden wie des Parzival nach dem wundersamen Gral.

Im Kontrast zu den fernsehüblichen Filmcomics und Fantasy-Märchen verzichtet der von WDR und La Sept/Arte koproduzierte Film auf simple Gags und Effekthascherei. Eine Schlüsselrolle in der poetischen Inszenierung spielen die gesichtslosen Ritter, die sich mit dumpfem Gerassel schwerfällig dahinschleppen und selbst in den wenigen Kampfszenen matt und unmotiviert wirken. Als Repräsentanten eines verkrusteten Feudalsystems leben sie träge in den Tag hinein. Selbst im Orient haben sie keine Augen für die Schönheiten ihrer Umgebung, sondern denken nur an Schätze und Machtgewinn. Ihr widersinniges Ausharren in den starren Rüstungen kostet in der Wüstenhitze denn auch einige das Leben. Das groteske Verhalten erinnert mehr an den bizarren "Don Quichotte" als an stolze Helden. In dieser "zum Teil tragischen Disposition der Figuren" ist – so der Regisseur – die hintergründige Komik des "Herzog Ernst" begründet: "Man muss über die Ritter lachen, aber irgendwie tun sie uns auch leid."

Einzige Ausnahme ist Herzog Ernst, der auf den Abenteuer-Stationen Stück um Stück seiner Rüstung verliert und den kümmerlichen Rest am Schluss abwirft. Je mehr dabei von seiner menschlichen Gestalt sichtbar wird, umso mehr öffnet er sich für die Schönheiten des Morgenlandes. Ohne weiteres lassen sich hier Parallelen zu aktuellen Problemen wie Fremdenfeindlichkeit und Intoleranz ziehen. Aber auch zum Nachdenken über bedauerliche Erscheinungen in unserer Zwei-Drittel-Wohlstandsgesellschaft wie Übersättigung, Gleichgültigkeit und Denkfaulheit vermag der Ritter mit der traurigen Gestalt anzuregen. Dem Regisseur ist eine weitere Verbindungslinie des Stoffes zur Gegenwart wichtig: "Herzog Ernst beschreibt eine Zeit, in der Not, Ausweglosigkeit und verbrauchte Konzepte den Wunsch nach einer 'Erlösung' durch Irrationalismus, Mystizismus und Wunderglauben weckten."

Zu der faszinierenden Stimmung der Rittergeschichte trägt nicht nur der ruhige Off-Kommentar des Sprechers Wolf Dieter Sprenger bei, sondern auch die suggestive Musik, für die neben J. U. Lensing der bekannte Jazz-Trompeter Manfred Schoof verantwortlich zeichnet. Die lineare Erzählstruktur erleichtert selbst jungen Kinobesuchern den Zugang. Trotz der ruhigen Atmosphäre lassen die betörend schönen Landschaften und die stete Folge immer neuer Begegnungen das Interesse nie erlahmen. Kurzum: ein fürstliches Kino-Abenteuer.

Reinhard Kleber

 

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