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Ausgabe 126-2/2011

Alles auf Augenhöhe

Gespräch mit Maryanne Redpath, Leiterin der Kinder- und Jugendfilmsektion "Generation", und deren Stellvertreter Florian Weghorn, nach Abschluss der 61. Internationalen Filmfestspiele Berlin

Interview

KJK: Wenn Sie auf den diesjährigen Jahrgang der Sektion „Generation“ zurückblicken, wie fällt da Ihre Bilanz aus?
Maryanne Redpath: Wir sind immer noch dabei, alle Materialien zu sammeln. Schon jetzt können wir aber sagen, dass wir ein sehr interessantes Festival mit einer großen Publikumsresonanz hatten. Insgesamt kamen etwa 3000 Zuschauer mehr als in den Jahren zuvor. Innerhalb einer guten Woche haben wir somit in unserer Sektion rund 59.000 Filminteressierte erreicht. Das "Haus der Kulturen der Welt" ist, abgesehen von einigen Anfangsproblemen, als neue Spielstätte sehr gut angenommen worden. Insbesondere für das Fachpublikum hat es sich als Vorteil erwiesen, dass die Wettbewerbe Kplus und 14plus wieder an einem Ort wahrgenommen werden konnten. Zudem bietet das Haus gute räumliche Möglichkeiten für Gesprächsrunden und individuelle Begegnungen. Sehr beglückt waren wir, dass in diesem Jahr zahlreiche Diskussionen zum Themenfeld Kinderfilm sehr öffentlichkeitswirksam angestoßen worden sind. Insbesondere wurde danach gefragt, was man Kindern im Kino zutrauen kann. Das ist ein Thema, mit dem wir uns in der Sektion ständig beschäftigen und das wir gern mit Fachleuten und unserem Publikum weiter besprechen.

Was ist Ihnen, nicht zuletzt im Kontext der angesprochenen Debatte gesehen, wichtig, wenn Sie Filme für ihr Programm auswählen?
Maryanne Redpath: Zunächst muss es ein handwerklich gut gemachter Film sein, der eine interessante Geschichte zu erzählen hat. Dann fragen wir natürlich, ob er sich auf Augenhöhe der Kinder seinem Publikum nähert. Das heißt nicht unbedingt, dass ein Film, den wir für Achtjährige als interessant ansehen, auch einen Protagonisten haben muss, der ebenfalls acht Jahre alt ist. Es heißt auch nicht, dass wir uns auf solche Filme beschränken wollen, die man in Deutschland als klassische Kinderfilme wahrnimmt. Wir haben nichts gegen solche Filme, im Gegenteil, doch unsere Auswahl geht darüber hinaus. Rund 85 Prozent der Filmemacher, die aus der ganzen Welt nach Berlin in unsere Sektion kommen, sagen, dass sie nicht explizit einen Kinderfilm gemacht haben. Sie gewinnen durch die Teilnahme bei "Generation" eine neue, junge Zuschauergruppe, ohne dass ihre Werke explizit als Kinderfilm gelabelt werden. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass der Markt oft mit dem Begriff nicht viel anfangen kann.
Aber wie gesagt, wir nehmen die klassischen Kinderfilme natürlich auch auf und sie feiern schöne Erfolge im Festival. In diesem Jahr war die Fortsetzung von "Knerten" ein solches Beispiel. Das ist ein traditioneller Dreiakter, der die Zuschauer in eine beschauliche Kinderidylle führt. In Dänemark zum Beispiel gibt es gerade eine lebendige Debatte: Ist es richtig, wenn man den Kinderfilm ausschließlich mit solchen Protagonisten verbindet, die das darstellen, was man in einer Idealwelt von einem Kind erwartet? Das heißt, die Kindheit soll möglichst gut strukturiert sein, das Kind darf sich zwar ein bisschen falsch benehmen, doch am Ende muss es gut erzogen erscheinen. Wenn solche Filme gut gemacht sind, dann haben sie auch ihre Berechtigung. Doch wir glauben, dass das junge Publikum auch Stoffe erwartet, die darüber hinausgehen.
Florian Weghorn: Und alle Filme im Programm führen untereinander einen Dialog. Das heißt, es gibt nicht diese Gegenüberstellung: hier jene Filme mit einer heilen Kinderwelt und dort die mit einem konkreten und oft konfliktreichen Realitätsbezug. Aus unserer Sicht sind die Grenzen fließend und das versuchen wir auszuloten. Unser Eröffnungsfilm "Jørgen + Anne = Für immer" ist ein wunderbarer Kinderfilm. Und er ist ein Film, der die Grenzen der Idylle überschreitet; Regisseurin Anne Sewitsky setzt sich sehr mutig mit Themen wie Angst und Eifersucht auseinander. Das sind Dinge, die auch Kinder beschäftigen. Im Programm nimmt der Film den Dialog mit Arbeiten auf, die ähnliche Fragen ansprechen, die aber vielleicht gar nicht direkt für Kinder gemacht worden sind.
Es hilft also nicht, wenn man das auseinander definiert und sagt: Hier war es noch in Ordnung, dort ist es aber zu weit gegriffen. Wir versuchen, für ein breit gefächertes Publikum mit sehr unterschiedlichen Interessen und Altersstufen zu programmieren. So kann ein junger Zuschauer sich mit "Der Liverpool-Torwart" einen richtig guten und unterhaltsamen Nachmittag machen, er kann aber in anderen Filmen auch einmal aus Kindersicht die Lebensbedingungen in Asien kennenlernen oder was es bedeutet, im Peru der 1980er-Jahre unterwegs zu sein.
Bei der Auswahl stellen wir nicht allein die Frage, w a s wird gezeigt, sondern wir schauen auch genau, w i e wird es gezeigt. Also: Wie kommt es auf der Augenhöhe für ein Kind zur Auseinandersetzung mit den Fragen, die der Film anreißt? Wird das Thema so erzählt, dass sich das junge Publikum angesprochen fühlt und dass es die verhandelten Dinge verstehen kann?
Maryanne Redpath: Kinderpersönlichkeiten sind komplex. Das ist genauso wie bei den Erwachsenen. In den anderen Sektionen der Berlinale sagen nicht alle, jeder Film sei toll und jeder Film hat mich angesprochen. So ist das auch bei den Kindern. Sie haben unterschiedliche Geschmäcker, sie haben verschiedene Erfahrungen, die sie in die Filme mit einbringen und sie haben unterschiedliche Blicke auf die Dinge. Manche unserer Zuschauer lieben die langsamen Erzählformen, andere Geschichten mit einem offenen Ende und manche finden, dass nicht genug Action zu erleben ist. Diese Vielfalt versuchen wir zu berücksichtigen.

In diesem Jahr artikulierten sich spürbar kritische Stimmen, die meinten, die Zielgruppe der Kinder sei durch das Programm zu oft überfordert. Wie nehmen Sie solche Äußerungen wahr?

Florian Weghorn: Das nehmen wir als einen interessanten Reflexionsprozess wahr. Wir haben in einem langen Auswahlverfahren mehr als 1200 Titel gesehen. Daraus wurde das Programm entwickelt, hinter dem wir in jeder Form stehen. Auch die Altersempfehlungen haben wir auf der Grundlage unserer Erfahrungen und in Absprache mit fachkundigen Beratern sehr bewusst ausgesprochen. Doch erst beim Festival haben wir die Chance, live zu sehen, wie unsere Zielgruppe reagiert. Die angesprochene Kritik erfolgte dieses Jahr oftmals schon im Rahmen der Vorabberichterstattung. Konstruktiver wäre es, man würde auch mit berücksichtigen, wie die Kinder reagieren. Auf der Basis dieser Erfahrungen aus dem Kino reden wir gerne darüber, was gut war und was vielleicht nicht funktioniert hat. In besonderem Maße wurde zum Beispiel der philippinische Dokumentarfilm "Sampaguita" kritisiert. Gerade hier hatten wir aber eines der schönsten Publikumsgespräche. Ich finde, die Kinder sind sehr souverän mit den im Film angesprochenen Problemen umgegangen.
Maryanne Redpath: Wir müssen die Kinder hinsichtlich ernster Fragestellungen nicht generell schonen. Natürlich dürfen sie nicht in irgendeiner Weise traumatisiert werden und deshalb muss alles sorgfältig ausgewählt und präsentiert werden. Ich habe aber manchmal den Eindruck, dass Erwachsene ihre eigene Betroffenheit auf die Kinder übertragen. Wenn in den Filmen die Eltern ihre Kinder vernachlässigen oder wenn die Kinder überhaupt allein auf sich gestellt sind, dann geht das den Erwachsenen im Publikum sehr nahe. Das ist dann aber deren Sache, und ihr erwachsener Blickwinkel soll sich von dem der Kinder unterscheiden. Die Meinungsäußerungen auf unseren Fragebögen belegen, dass sich Kinder auf ihre Art mit solchen Konflikten auseinandersetzen. Sie wollen über diese Themen reden und die Filme bieten ihnen eine Gelegenheit dazu.

In jüngster Zeit wird viel über das Thema Filmbildung geredet. Spielt dieser Aspekt bei Ihren Programmüberlegungen auch eine Rolle?
Maryanne Redpath: Es ist wichtig, Kindern in der Schule einen Zugang zur Filmsprache und zu filmischen Wirkungsmustern zu vermitteln. Im Festival ist das nicht unsere primäre Aufgabe. Unser Job ist es, die Filme nach Berlin zu holen und sie als ein sinnliches Erlebnis zu präsentieren. Wenn wir das Programm bauen, fragen wir nicht, was können die Kinder lernen, wenn sie diesen Film sehen. Wir machen ein Angebot und geben dieses als Geschenk an das Publikum weiter. Jeder Film soll ein Anstoß für Diskussionen sein, und die Leute können die Filme dann so nutzen, wie sie es für richtig halten.
Florian Weghorn: Wie gut das funktionieren kann, sehen wir seit vielen Jahren in unserem medienpädagogischen Projekt "Berlinale macht Schule", das fest bei uns angedockt ist und das wir nach Kräften unterstützen. Hier stoßen wir indirekt zahlreiche Lernprozesse an, indem durch die Filme Erkenntnisse über die Welt, die unterschiedlichen Kulturen und die Seele vermittelt werden. Es ist interessant zu sehen, was Lehrer mit ihren Schülern je nach Schwerpunkt aus den Filmen alles ableiten können.

Obwohl der Berlinale-Direktor Dieter Kosslick immer wieder betont, dass das Festival gerade dem deutschen Film eine breite Plattform bieten will, ist davon in Ihrer Sektion relativ wenig zu spüren. Woran liegt das?
Florian Weghorn: Wir bemühen uns sehr, deutsche Filme in unseren Wettbewerben zu präsentieren und haben dies ja auch in jüngster Vergangenheit getan. Im Vorfeld dieses Festivals haben wir diesbezüglich umfangreiche Recherchen an den Filmhochschulen durchgeführt. In den Abschlussfilmen, die wir gesehen haben, kamen Kindheit und Jugend öfters zur Sprache, doch wir haben keine gänzlich überzeugende Arbeit gesehen, die sich in ihrer Erzählhaltung auf die Augenhöhe der Kinder begibt. Es mag erstaunen, aber manche deutschen Produktionen zeigen zudem wenig Interesse, ihre Filme in der Sektion einzureichen. Man kann nur mutmaßen, dass ein Auftritt bei Generation mit Blick auf den Markt für sie nicht so bedeutungsvoll ist. Vor einigen Jahren hätten wir gern Detlev Bucks "Hände weg von Mississippi" gezeigt. Doch man sagte uns, das sei kein Kinderfilm und daher nichts für die Sektion. Diese Haltung änderte sich erst, als es um den Deutschen Filmpreis ging, wo der Film dann die Auszeichnung in der Kategorie Kinderfilm bekam. Eine Rolle spielt dabei der Umstand, dass sich Generation-Filme nicht für Referenzmittel der FFA qualifizieren können. Das Festival hat diesbezüglich bereits einiges unternommen, bislang leider ohne Erfolg.
Maryanne Redpath: Ich glaube auch nicht, dass es Dieter Kosslick schlicht um eine Quote hinsichtlich deutscher Produktionen geht. Ich finde es toll, wenn die Aufmerksamkeit besonders hoch ist, doch bei der Auswahl müssen wir dieselben Qualitätsmaßstäbe anlegen, wie auch bei allen anderen Produktionen. Bei "Wintertochter", dem neuen Film von Johannes Schmid, waren wir leider unentschieden; mehr Gründe sollte ich eigentlich an dieser Stelle nicht nennen. Zu den zeitlichen Abwägungsprozessen vielleicht noch Folgendes: Wir haben den Film in einer Phase des Auswahlverfahrens gesehen, als noch viele andere Filme auf eine Sichtung warteten. Als es für den Film eine andere Festivaloption gab, brauchte es eine Entscheidung. Auch weil wir das zu dem Zeitpunkt nicht konnten, haben wir ihn abgesagt. Neben sechs anderen Filmen mit deutscher Beteiligung repräsentierte dann "Stadt, Land, Fluss" des Nachwuchsfilmers Benjamin Cantu im Wettbewerb "14plus" den deutschen Film innerhalb unserer Sektion. Wir hätten mit "14" von Cornelia Grünberg gern noch einen weiteren einheimischen Film präsentiert, doch den haben wir leider von der Produktionsfirma nicht bekommen.

Das Gespräch führte Klaus-Dieter Felsmann

 

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