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Ausgabe 127-3/2011

MIT ERHOBENEN HÄNDEN

LES MAINS EN L’AIR

Produktion: Les Films du Losange; Frankreich 2010 – Regie und Buch: Romain Goupil – Kamera: Irina Lubtchansky – Schnitt: Laurence Briaud – Darsteller: Valeria Bruni-Tedeschi (Cendrine), Linda Dudaeva (Milana), Jules Ritmanic (Blaise), Louna Klanit (Alice), Louka Masset (Ali), Jeremie Yousaf (Claudio), Dramaine Sarambounou (Youssef), Hyppolythe Girardot (Rudolphe), Romain Goupil (Luc), Malika Doudaeva (Milanas Mutter) u. a. – Länge: 90 Min. – Farbe – Kontakt: Les Films du Losange, Paris, Tel.: +33 1 4443 8728, email: a.valentin@filmsdulosange.fr – Altersempfehlung. ab 8 J.

Vielleicht nur das Publikum in Frankreich wird die subtile Ironie des Films zu Beginn in der Rahmenhandlung wirklich goutieren können, die in der Zukunft, im Jahr 2067, angesiedelt ist. Darin schildert eine ältere Frau als Ich-Erzählerin eine Begebenheit von politischer Tragweite aus ihrer Kindheit aus dem Jahr 2009, ohne sich daran erinnern zu können, wer damals (also in der heutigen Gegenwart) französischer Staatspräsident war. Gleich darauf erfährt man über die Credits, dass Valeria Bruni-Tedeschi, also die Halbschwester von Frau Bruni und damit die Schwägerin von Nicolas Sarkozy, eine Hauptrolle in diesem Film spielt. Und der wirft kein gutes Licht auf die aktuelle Abschiebungspraxis der französischen Regierung und das überzogene Vorgehen der Ausländerpolizei gegenüber nur vorübergehend geduldeten Ausländern und ihren Familien.

Mit ähnlicher Ironie auf pädagogischer Ebene werden in der folgenden Gegenwartshandlung mehrere Kinder zwischen acht und zwölf Jahren eingeführt, eine sechsköpfige Clique aus jungen Franzosen und Kindern mit unmittelbarem Migrationshintergrund, die irgendwo in einem Keller ihr perfektes Versteck gefunden haben. Sie verkaufen Raubkopien von Videospielen auf DVD – aber nur bis zu dem Zeitpunkt, als ein Junge aus der Nachbarschaft wegen fehlender Aufenthaltsgenehmigung abgeschoben wird. Einige Eltern und Lehrer in der Schule solidarisieren sich, denn es gibt noch weitere Kinder, denen ein ähnliches Schicksal droht. Sie werden nach dem Vorschlag einer engagierten zweifachen Mutter vorübergehend in französischen Gastfamilien untergebracht. Diese lebt in einer unkonventionellen Beziehung und raucht bei jeder Gelegenheit eine Zigarette – vielleicht auch nur, damit sie nicht zu ideal gezeichnet ist. Auf diese Weise kommt Milana, die Tochter einer Flüchtlingsfamilie aus Tschetschenien, in die Familie ihres Schulkameraden Blaise und seiner kleinen Schwester Alice. Milana darf sogar mit in den Urlaub in die Bretagne. Sie kann ihr Glück kaum fassen, zumal sich zwischen ihr und Blaise eine unschuldige zarte, aber sehr intensive Liebesbeziehung entwickelt. Wieder zurück in Paris bekommen die Kinder zufällig mit, dass nun auch Milana die Abschiebung droht. Bereits zuvor haben sich die Freunde einen ausgeklügelten Notfallplan für einen solchen Fall ausgedacht, der nun in die Tat umgesetzt wird. Spurlos verschwinden fünf der Kinder in dem mit Nahrung, Spielen und anderen Utensilien ausgestatteten Geheimversteck im Keller, während die Ausländerpolizei und die Politik, aber auch die Mutter von Blaise immer mehr in Bedrängnis geraten.

Kinderfilme nach deutschem Verständnis gibt es in Frankreich eigentlich nicht. Stattdessen werden zahlreiche Filme mit und über Kinder und ihre spezielle Sicht der Welt produziert, die auch für Kinder  geeignet und gut verständlich sind. Sie werden von den Erwachsenen aber genauso gerne gesehen, denn sie haben Niveau und Qualität, sind alles andere als kindertümlich. Dieser Sorte Film lässt sich auch der Film von Romain Goupil (Jg. 1953) zurechnen, der übrigens bereits im Alter von 16 Jahren seine ersten Kurzfilme drehte. Ein deutsches Pendant, das ein derart brisantes politisches Thema kindgerecht zu erzählen wüsste, ohne die Perspektive von Kindern nur einen Augenblick zu verlassen, sucht man hierzulande zurzeit vergeblich. Da sind eher Märchenverfilmungen angesagt, möglichst im Dutzend. Mit viel Fantasie und Erfindungsreichtum, etwa durch Handyklingeltöne im Ultraschallbereich, die außerhalb des Hörspektrums von Erwachsenen liegen, wenden sich die fünf Kinder gegen die Interessen der Politik, die auf Einzelschicksale keine Rücksicht nimmt. So setzen sie mit ihrer Aktion ein deutliches Zeichen für Solidarität, Toleranz und Menschenwürde. Ihr leiser Widerstand, der in ruhigen Bildern fast beiläufig erzählt wird, verlässt niemals die Ebene des Spielerischen und Unbeschwerten. Sogar eine Ratte im Keller taugt nicht einmal ansatzweise als Horrorelement. Dagegen nehmen die Kinder die privaten Spannungen unter den Erwachsenen und das gesellschaftliche Klima, das sich in der Omnipräsenz von Polizisten auf der Suche nach Illegalen widerspiegelt, sehr genau wahr – und sie reagieren entsprechend darauf, zumal dieses Klima unmittelbare Auswirkungen auf sie selbst hat. Wenn die Kinder am Ende aus einem ihnen selbst unersichtlichen Grund, wie es die Erzählerin behauptet, mit erhobenen Händen ihr Versteck verlassen, mag diese titelgebende Verhaltensweise Assoziationen an die Vergangenheit der deutschen Besatzung und die Judenverfolgung wecken. Aber auch ohne solche historischen Vergleiche vermittelt sich die Bedeutung des symbolischen Akts altersunabhängig all denjenigen, die nicht wie eine Journalistin im Film erst noch fragen müssen, warum Milana überhaupt in die Familie von Blaise aufgenommen wurde oder warum die Kinder sie beschützen wollten.

Der auf dem Filmfest/Kinderfilmfest München 2011 erstmals in Deutschland präsentierte Film, der übrigens in der Schweiz schon ab 7 Jahren freigegeben wurde, verdient es, baldmöglich auch hierzulande ein größeres junges und älteres Publikum zu finden.

Holger Twele

 

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