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Ausgabe 129-1/2012

"Warum dürfen Kinder im Kino nicht weinen?"

Gespräch mit Martin Busker, Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg, Regisseur und Drehbuchautor.

(Interview zum Film HALBE PORTIONEN)

Sein Hochschulfilm "Höllenritt" sowie sein Abschlussfilm "Halbe Portionen" wurden auf vielen Festivals im In- und Ausland präsentiert und ausgezeichnet.

KJK: Sie haben sich offensichtlich schon früh für Film interessiert, ihr erster Film entstand im Abitur.
Martin Busker: Meinen ersten Film habe ich sogar schon mit zwölf Jahren gemacht. Als ich meine erste Videokamera in die Hand bekommen habe, ich glaube, es war sogar eine Super-8-Kamera, habe ich mit einem Freund zusammen eigentlich jedes Wochenende irgendetwas gedreht: Musikvideos, Werbespots und Kurzfilme. Die wurden dann immer länger. 1999 entstand mein erster ernstzunehmender Film.

Das war „Ferne Ufer“. Worum geht es in diesem Kurzfilm?
In dem geht es um eine Liebesgeschichte zwischen zwei Teenager-Jungs, die in einem kleinen Ort leben. Sie lernen sich kennen, eine junge Liebe erwacht, es gibt ein paar Vorurteile von außen. Einer von ihnen ist krebskrank und stirbt an einem Gehirntumor gerade in dem Moment, als sie sich ein bisschen näher kommen. Na ja, also wenn man schon mit wichtigen Themen anfängt, dann richtig!

Was fasziniert Sie am Filmemachen?
Mich faszinieren Gefühle. Eigentlich wollte ich immer lernen, wie es Filmemacher schaffen, dass ich im Kino so ein Bauchkribbeln bekomme. Ich selber bin leider ein sehr kopflastiger Typ, der viel zu viel denkt und zu wenig spürt, aber Film habe ich immer als etwas erlebt, das wie so eine Flucht in eine Traumwelt ist, in der ich in ein Leben eintauchen kann, das völlig fern von meinem ist, und wo mein Kopf für 90 Minuten abgestellt ist und mein Herz und mein Bauch angeschaltet werden. Das ist der Impuls, warum ich selber Filme machen möchte. Ich stelle mir beim Arbeiten wirklich den Moment vor, in dem das Licht im Kino angeht. Also wie fühlen sich die Leute, wenn sie rausgehen. Deswegen ist es immer der schönste Moment oder auch der schlimmste, auf einem Festival zu sehen, wie die Leute reagieren.

Ihr letzter Film, "Halbe Portionen", bedient ja nun nicht unbedingt die gängigen Sehgewohnheiten ...
Das stimmt. Ich weiß selber noch nicht so genau, was meine Filme eigentlich an sich haben. Auf jeden Fall Vitamin E – Emotionen. Sie verstecken sich nicht davor, Werte wie Freundschaft, Familie, Liebe und Zuneigung spürbar zu machen und gehen diese nicht auf so einer intellektuellen Ebene an. Die Geschichte von "Halbe Portionen" ist im Grunde gar nicht so ungewöhnlich, diese Zufallsbegegnung von zwei ganz unterschiedlichen Typen, die sich brauchen, haben wir schon hundertmal gesehen. Aber wahrscheinlich sind es die Details.

Wo nehmen Sie die Details her?
Vieles ist einfach Erinnerung. Ich kann nicht sagen, dass ich eine besonders abgefahrene Kindheit hatte, und ich war auch ein schüchterner Typ, aber ich habe eine ganze Menge Quatsch gemacht. Zum Beispiel der Wettbewerb mit den Vätern in "Höllenritt" hat mit meiner Kindheit und der Scheidung meiner Eltern zu tun. Ich habe mich damals mit Freunden zusammengetan, um unsere Nachbarin, die Geliebte meines Vaters, zu quälen. Wir haben Matsch an die Scheibe geschmiert, Blumen herausgerissen, richtig mit System. Und der Drehbuchautor Matthias Schmidt kannte das in einer ähnlichen Form und so haben wir es in unseren Film aufgenommen. Vieles ist also Erinnerung und der Umstand, dass ich die Augen offen halte. Ich habe nicht das Gefühl, ich erfinde etwas, sondern ich trage einfach nur zusammen und überhöhe natürlich gern.

Wo haben Sie die Kinder für "Halbe Portionen" entdeckt?
Ich fand immer so toll, wenn ich in Stuttgart beim Einkaufen türkischen Jungs begegnete, die schwäbisch gesprochen haben. Das ist die perfekte Integration! Deswegen wollte ich einen schwäbisch sprechenden Türken. Wir haben aber nicht mit einer Agentur zusammengearbeitet, sondern Streetcasting gemacht. Haben 5000 Flyer drucken lassen und waren fast jeden Tag unterwegs, vor allem in Stuttgarter Schulen. Zum Casting sind dann knapp 300 Jungen gekommen. Jeder hatte eine Szene zugeschickt bekommen und musste eine Improvisation machen. Den Darsteller für Luka hatte ich in der ersten Runde bereits gefunden, aber noch keinen türkischen Jungen. Irgendwann stand ich in Ludwigsburg am Hauptbahnhof, um nach Berlin zu fahren, und sehe auf dem Bahnsteig gegenüber einen Jungen mit seiner kleinen Gang eine Telefonzelle auseinander nehmen. Ich dachte, das ist mein Mann, und bin mit meinem Koffer rüber gerannt, habe ihm meine Karte in die Hand gedrückt und gesagt: Ruf an, du kriegst eine Rolle im Film! Mohammed hat sich tatsächlich gemeldet und uns alle überzeugt. Und da dachte ich, zu ihm würde gut der Lorenz Harder (Luka) passen, den ich ja schon beim ersten Casting gesehen hatte.

Wie haben Sie mit den Jungen gearbeitet?
Das war sehr unterschiedlich. Der Lorenz hatte schon mal beim Jugendtheater mitgespielt, mit dem hatte ich nicht viel Arbeit. Zum Glück, denn ich habe alle Energie für den Mohammed gebraucht. Das Gute war, dass Lorenz keinen Text hatte. So haben wir vorher viel telefoniert, viel über Bilder gearbeitet und darüber gesprochen, wie sich der Luka fühlt. Bei Mohammed war es weitaus schwieriger. Er ist ein relativ schwacher Hauptschüler und hatte 45 DIN A-Seiten Text. Er hat es noch nicht mal geschafft, das Drehbuch allein zu lesen und so haben wir uns die letzten drei Wochen vor dem Dreh wöchentlich an sechs Tagen getroffen und mindestens drei Stunden Text gelernt. Außerdem hatte ich nicht bedacht, dass Textlernen auch darüber funktioniert, dass du dir merkst, was der andere gesagt hat. Aber diese Hilfe hatte Mohammed nicht, denn er spricht ja nur Monologe. Am Set war das alles sehr schwierig. Mohammed hat keinen einzigen Satz auswendig gewusst. Im Prinzip besteht jeder Satz im fertigen Film aus drei verschiedenen Aufnahmen, weil immer nur der Anfang, die Mitte oder der Schluss gut war. Deshalb brauchten wir anschließend sechs Monate für den Schnitt.

Für Lorenz Harder waren die Dreharbeiten doch sicher auch nicht einfach, denn schon für Profis ist es ungeheuer schwierig, eine stumme Rolle zu spielen.
Das stimmt, aber es ist auch die Frage, wie arbeitet man mit Kindern überhaupt. Ich bin kein Fan davon, Kindern etwas vorzumachen, denn so gut spielen, dass ich Lorenz etwas vormachen könnte, kann ich nicht. Ich bin auch nicht so cool wie Mohammed. Sie spielen viel authentischer, als ich das jemals kann. Deswegen rede ich mit ihnen wie mit erwachsenen Schauspielern über Bilder. Sie sollen sich vorstellen, was wäre wenn. Bei Mohammed musste ich etwas technischer vorgehen, aber mit Lorenz habe ich in jeder drehfreien Minute über dem Drehbuch gesessen und überlegt, wie ist Luka da und da.

Ist "Halbe Portionen" ein Kinderfilm?
Ich weiß nicht, was ein Kinderfilm ist. Ich würde vielleicht einen Film als Kinderfilm bezeichnen, der darauf verzichtet, tragische Konflikte zu zeichnen, bunt ist und viel Spaß macht, wie zum Beispiel "Hände weg von Mississippi". Alle Filme aber, die versuchen, das Leben zu zeigen, wie es ist, und die Schattenseiten nicht auszulassen, sind meiner Meinung nach Filme für Kinder und Erwachsene gleichermaßen. Ich selbst halte von dieser Unterscheidung nicht viel, stelle aber fest, dass die Erwachsenen zumindest in Deutschland offensichtlich kein Interesse daran haben, Filme mit kindlichen Protagonisten zu sehen. Zum Beispiel lief "Dschungelkind" nur im Nachmittagsprogramm oder am Sonntagvormittag, weil ein Kind die Hauptfigur ist. Ich weiß nicht, woran das liegt. Am Verleih, am Kino oder wollen die Zuschauer den Film nicht im Abendprogramm sehen? Ich persönlich sehe Filme mit Kindern gerne. Auf der anderen Seite schauen ja Erwachsene und Kinder die Harry Potter-Filme an oder auch "Wer früher stirbt ist länger tot". Da scheint der Spagat zu gelingen.

Wie gehen Kinder mit dem Anblick der toten Mutter in "Halbe Portionen" um? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Also sowohl auf Festivals wie auch bei zahlreichen Schulveranstaltungen ist es ganz eindeutig so, dass der Film zwar an die Substanz der Kinder geht, aber nicht in einer negativen Art und Weise. Er fordert sie zur Auseinandersetzung heraus. Die Kinder lachen, wenn es komisch ist, und bei traurigen Szenen ist es totenstill im Kino. Aber die Kinder gehen mit einer sehr positiven Grundstimmung nach Hause. Mir ist klar, dass wahrscheinlich ein Drittel von ihnen im Traum noch einmal diese tote Mutter sieht, aber sie sind trotzdem nicht traumatisiert. Der Film wirkt nach und das ist gut. Denn die Grundaussage des Films ist ja diese, dass die Jungen durch die Freundschaft und mit dem Glauben an das Leben die Schwierigkeiten meistern. Beim Festival "Goldener Spatz" verließen bei der ersten Vorführung mehrere Jurykinder weinend den Saal, aber hinterher haben sie dem Film trotzdem ihre Stimme gegeben, weil sie ihn so toll fanden. Ich frage, warum dürfen Kinder im Kino nicht weinen? Ich habe in meiner Kindheit Momente erlebt, wo ich sehr traurig war und mir gewünscht hätte, einen medialen Input zu bekommen, mit dem ich mich hätte vergleichen können. Zu lernen, aus dem tragischen Ausgang des Lebens das Beste zu machen und nicht aufzugeben, ist eine gute und wichtige Botschaft. Doch die kann ich nur vermitteln, wenn ich die Tragik zeige und nicht, wie im Kinderfernsehen beispielsweise, so tue, als ob alles immer gut wird. Damit belüge ich eigentlich die Kinder. Doch leider traut sich kaum jemand noch in dem Bereich, so radikal zu sein.

Das Gespräch führte Barbara Felsmann

 

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