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Ausgabe 131-3/2012

DAS MEER AM MORGEN

LA MER À L'AUBE

Produktion: Probovis / Les Canards Sauvages / Arte France / BR / NDR / SWR; Deutschland / Frankreich 2011 – Regie und Buch: Volker Schlöndorff – Kamera: Lubomir Bakchev – Musik: Bruno Coulais – Darsteller: Léo Paul Salmain (Guy Môquet), Marc Barbé (Timbaut), Martin Loizillon (Claude Lalet), Ulrich Matthes (Ernst Jünger), André Jung (General Stülpnagel) Jean-Pierre Daroussin (Abbé Moyon) u. a. – Länge: 89 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Provobis Gesellschaft für Film und Fernsehen, Berlin, office@provobis.de – Altersempfehlung:  ab 14 J.

Der deutschsprachige Titel des jüngsten Films von Volker Schlöndorff hört sich beinahe idyllisch an. Und doch schildert der Film "Das Meer am Morgen", der im Panorama der Berlinale 2012 als Deutschlandpremiere zu sehen war, einen besonders düsteren Abschnitt der deutschen Besatzungszeit in Frankreich: die Exekution von 150 Geiseln im Oktober 1941, die am Atlantik als "Vergeltung" für den tödlichen Anschlag junger kommunistischer Widerstandskämpfer auf den deutschen Kommandanten Karl Hotz in Nantes hingerichtet wurden.

Zu den Erschossenen gehört auch der damals 17-jährige Arbeitersohn Guy Moquet, der in Frankreich als Pendant zur Münchner Widerstandskämpferin Sophie Scholl betrachtet wird. In Paris trägt seit 1946 eine Metro-Station seinen Namen, zu seinem 75. Geburtstag erschien eine Briefmarke mit seinem Porträt. Zur nationalen Legende avancierte Moquet spätestens, als Staatspräsident Nicolas Sarkozy bei seinem Amtsantritt 2007 anordnete, dass dessen ergreifender Abschiedsbrief an die Familie jedes Jahr an Moquets Todestag in den Oberschulen verlesen wird.

Moquet wurde ins Internierungslager Champ Choisel bei Chateaubriant in der Bretagne eingewiesen, weil er in einem Pariser Kino während der Wochenschau Flugblätter gegen die Besatzung vom Rang geworfen hatte. Im Film sieht man, wie der Junge, vom Newcomer Léo Paul Salmain solide verkörpert, einen Wettlauf gewinnt und am Lagerzaun mit seiner jungen Freundin Odette Leclan flirtet. Er gehört zu den Geiseln, zumeist Kommunisten und Proletarier, die der widerstrebende Landrat auf deutschen Befehl zur Hinrichtung auswählt. Die Kamera zeigt ausführlich, wie Moquet mit einem Bleistiftstummel seinen Abschiedsbrief schreibt, wie er sichtlich um Haltung ringt, aber am Ende am Hinrichtungspfahl – wie seine erwachsenen Leidensgenossen – eine Augenbinde ablehnt. Schlöndorff verknüpft diesen Erzählstrang mit den simultanen Geschehnissen im deutschen Hauptquartier in Paris. Dort versucht General Otto Edwin von Stülpnagel, den wütenden Führer Adolf Hitler in Berlin von dem Befehl abzubringen, zur Vergeltung für das Attentat auf Hotz 150 Franzosen hinzurichten. Der General beauftragt den Offizier und Schriftsteller Ernst Jünger, den politisch heiklen Vorgang literarisch festzuhalten. Jünger, der von 1941 bis 1944 zum Stab des Militärbefehlshabers in Frankreich gehörte, verfasste die Schrift "Zur Geiselfrage", die lange verschollen war und erst im Herbst 2011 mit einem Vorwort Schlöndorffs auf Deutsch publiziert wurde. Jünger war es auch, der den Abschiedsbrief Moquets als erster übersetzte. Den dritten Erzählstrang des Films bilden die Erlebnisse eines jungen Wehrmachtsoldaten, der gerade zu einer Bunkeranlage an den Atlantikwall versetzt worden ist. Zur Exekution abkommandiert, weigert er sich, auf die französischen Geiseln zu schießen und bricht zusammen. Diese Filmfigur wurde von der Erzählung "Vermächtnis" des späteren Literaturnobelpreisträgers Heinrich Böll inspiriert, der in jungen Jahren in der Nähe des Tatorts als Soldat diente.

Schlöndorff hat zu dem Massaker starke persönliche Bezüge. Er hörte erstmals davon, als er als 17-Jähriger 1956 in einem Jesuiteninternat in der Bretagne ankam. Aber erst ein halbes Jahrhundert später erfuhr der Regisseur durch ein Buch, das ihm der Journalist Pierre-Louis Basse in die Hand drückte, dass Moquet zu den damaligen Opfern gehörte – damals eben auch 17 Jahre alt. Der jetzt 72-jährige Filmemacher, der insgesamt zehn Jahre in Frankreich lebte und dort auch zum Filmemachen fand, verarbeitet bei seiner Rekonstruktion der letzten beiden Tage der Geiseln Abschiedsbriefe der Geiseln, Polizeiprotokolle, die Denkschrift Jüngers und zwei Erzählungen Bölls. Die Verarbeitung dieser disparaten Informationsquellen in seinem Drehbuch ist nicht überall gleich gut gelungen. Eindringlich, weil mit kühler Distanz geschildert, sehen wir, wie das Räderwerk der brutalen Vergeltungsmaschinerie der Besatzungsmacht zunehmend auch französische Beamte, Polizisten und Wärter instrumentalisiert – sie werden vom Mitläufer gleichsam zum Mittäter.

Zu den stärksten Szenen gehört der Abschied, den die Todgeweihten in einer Scheune von einem aufrechten Pfarrer nehmen, dem sie ihre letzten Briefe anvertrauen. Tragischer noch als das kurze Lebewohl, das Moquet seiner Liebsten am Zaun sagt, wirkt der Abschied eines nur wenig älteren Mitgefangenen, dem nur wenige Minuten mit seiner jungen Ehefrau zugestanden werden – er hätte an diesem Tag eigentlich aus der Haft entlassen werden sollen, nun geht er in den Tod. Schlöndorff vermeidet hier zum Glück jedes Pathos, er stilisiert die Opfer nicht als Helden, allenfalls als Märtyrer. Dagegen wirken die Begegnungen im Hauptquartier und im Landratsamt oft hölzern-steif, einige Dialoge können sich kaum von den Papierseiten lösen. Und der nervliche Zusammenbruch der jungen Soldaten bei der Hinrichtung schrammt hart an der Rührseligkeit vorbei. Insgesamt aber hat Schlöndorff eine bewegende Hommage an die französische Résistance und ein Plädoyer für Zivilcourage und Mut, Solidarität und Völkerverständigung geschaffen. Umso mehr verdient der für den Kultursender ARTE konzipierte TV-Film eine Kinoauswertung. Zumal er viele Anknüpfungspunkte für die Filmarbeit in Schulen, Filmclubs und anderen Bildungseinrichtungen bietet. Denn Moquets tragischer Tod darf nicht vergessen werden.

Reinhard Kleber

 

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