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Ausgabe 132-4/2012

WINTERDIEB

L’ENFANT D‘EN HAUT – Sister

Produktion: Vega Film / Archipel 35; Schweiz / Frankreich 2012 – Regie: Ursula Meier – Buch: Ursula Meier, Antoine Jaccoud, Gilles Taurand – Kamera: Agnès Godard – Schnitt: Nelly Quettier – Musik: John Parish – Darsteller: Léa Seydoux (Louise), Kacey Mottet Klein (Simon), Martin Compston (Mike), Gillian Anderson (Kristin Jansen) u. a. – Länge: 97 Min. – Farbe – FSK: noch offen – Verleih: Arsenal Filmverleih – Altersempfehlung: ab 14 J.

Der zwölfjährige Simon wohnt zusammen mit seiner um einige Jahre älteren Schwester Louise in einem schäbigen Betonhochhaus am Rande einer Durchgangsstraße. Von Ferne sind die schneebedeckten Alpengipfel der französischsprachigen Schweiz zu sehen, die in krassem Gegensatz zu der Ödnis der Wohnsiedlung unten im Tal stehen. Louise kümmert sich herzlich wenig um ihren kleinen Bruder, zumal sie vollauf damit beschäftigt ist, von einer flüchtigen Männerbekanntschaft in die nächste zu stolpern und dabei immer die gleichen negativen Erfahrungen macht. So ist Simon weitgehend auf sich selbst angewiesen, auch was die Finanzierung des Lebensunterhalts für sich und Louise betrifft. Simon geht das für sein Alter unwahrscheinlich professionell an. Nahezu täglich begibt er sich in die hochalpinen Skigebiete, hat aber weder für die Schönheit der Natur ein Auge noch für den Wintersport an sich etwas übrig. Mit Kennerblick greift er zu den vor den Sonnenterassen abgestellten Skiern und der Winterausrüstung der reichen Skitouristen und verkauft die Gegenstände anschließend im Tal. Ab und zu angesprochen darauf, warum er ganz alleine dort oben unterwegs ist, erzählt Simon je nach Bedarf eher sachlich oder auch mitleidserregend, seine Eltern seien bei einem Autounfall gestorben und seine große Schwester passe auf ihn auf. In Wirklichkeit verhält es sich eher umgekehrt. Die Beziehung zwischen ihm und Louise ist zudem von großen Spannungen und starken Stimmungsschwankungen geprägt, die auch einmal in einem handfesten Gerangel im Dreck ausarten. Obwohl Simon unablässig als Lügner, Dieb und Hehler agiert, entwickelt der Film unverkennbar Sympathie und sogar Bewunderung für diesen kleinen Strolch, der offenbar auf der Schattenseite des Lebens steht und von einer riesigen, diffusen Sehnsucht angetrieben scheint. Seine Sehnsucht, wie auch die etwas anders gelagerte seiner Schwester, scheint unstillbar und im aktuellen Lebensumfeld der Figuren unrealisierbar. Erst in der zweiten Hälfte lüftet der Film das Geheimnis um Simon, das die Beziehung zu seiner Schwester in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lässt und ihm reichlich deprimierende Zukunftsperspektiven übrig lässt.

Die 1971 in Frankreich geborene Regisseurin Ursula Meier, die unter anderem Assistentin bei Alain Tanner war, besitzt auch die Schweizer Staatsbürgerschaft. In ihrem zweiten Langspielfilm nach "Home" (2008) greift sie das soziale Gefälle in einer Wohlstandsgesellschaft auf, das auch für den Zerfall von Familie mitverantwortlich ist. Bildlich – und aufgegriffen im französischen Originaltitel des Films – kommt dieses Gefälle besonders plastisch und drastisch zum Ausdruck dank der topografischen Gegebenheiten der alpinen Schweiz. Nur die Reichen können sich die teuren Skilifte leisten, die sie mit ihrer Hightech-Ausrüstung in die touristisch erschlossenen Skigebiete führt, während Simon mit seinem Diebesgut auf die schwindelerregenden offenen Lastengondeln angewiesen ist. Im tristen Tal, in dem der wegtauende Schnee nur hässliche Flecken in der Landschaft hinterlässt, kann er von dem sorglosen Leben der Urlauber oben auf den Bergen allenfalls träumen.

Ganz aus der Perspektive des Jungen erzählt, lässt sich der Film viel Zeit, die Zuschauer an Simons Leben teilhaben zu lassen, sie neugierig auf die wahren Motivationen der Figuren zu machen, vielleicht sogar eigene Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Denn trotz der offensichtlichen Sozialkritik handelt es sich nicht um ein Sozialdrama im üblichen Sinn, eher um eine Parabel auf eine immer mehr auseinander driftende Zweiklassengesellschaft. Es tauchen dort weder Polizisten noch Sozialarbeiter auf und der vielgepriesene Schweizer Sozialstaat scheint nicht einmal ansatzweise zu existieren. Das mag zunächst irritieren, verhindert aber voreilige "Lösungen" des gesellschaftlichen Problems und ist zudem nicht einmal unrealistisch. Schließlich beantragen auch in Deutschland nicht alle Berechtigten die ihnen zustehenden Sozialleistungen und Hilfsprogramme, sei es aus Scham, Unkenntnis, Trotz oder Stolz, um als Bittsteller nicht von anderen abhängig zu sein.

Dank des überragenden Hauptdarstellers Kacey Mottet Klein und den unaufdringlichen und doch eindringlichen Bildern von Kamerafrau Agnès Godard ist "Winterdieb" (L'enfant d'en haut – Sister) ein Film, der lange im Gedächtnis bleiben wird. Er wurde bei der Berlinale 2012 mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet. Auf dem bayerischen Fünf Seen Filmfestival erhielt er in der Sparte Spielfilm den Hauptpreis mit der Begründung, der Film sei "... ein starkes, bewegendes, stets überraschendes Stück Kino, dem nicht nur dieser Preis gebührt, sondern auch ein nachhaltiger Erfolg beim Publikum". Zugleich war er neben dem belgischen Film "Blue Bird" und dem niederländischen Film "Kauwboy" für den ersten Europäischen Kinderfilmpreis 2012 nominiert, der von einer internationalen Kinderjury vergeben wurde.

Holger Twele

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 132-4/2012 - Interview - Alle meine Filme spielen an solchen "nowhere places"

 

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