© Generation / Berlinale
Produktion: BosBros / N279 Entertainment; Niederlande / Belgien 2012 – Regie: Vincent Bal – Buch: Vincent Bal, Jon Gilbert, nach dem Roman "Zickzackkind" von David Grossman – Kamera: Walther Vanden Ende – Schnitt: Peter Alderliesten – Musik: Thomas de Prins – Darsteller: Isabella Rossellini (Lola), Burghart Klaussner (Felix), Thomas Simon (Nono), Fedja van Huêt (Jacob), Jessica Zeylmaker (Gaby), Camille des Pazzis (Zohara) – Länge: 95 Min. – Farbe – Weltvertrieb: Attraction Distribution, Montreal, Kanada, info@attractiondistribution.ca – Altersempfehlung: ab 8 J.
Der knapp dreizehnjährige Nono tickt ein wenig anders als seine Verwandten. Da kann es schon einmal passieren, dass sich der fantasievolle Junge ein bisschen daneben benimmt wie etwa beim feierlichen Bar-Mizwa-Fest seines Cousins. Nun soll er vor seiner bevorstehenden eigenen Einführung in die Gemeinschaft der Erwachsenen noch bei seinem strengen Onkel lernen, wie man sich zu verhalten hat. Aber es ist gar nicht so einfach, erwachsen zu werden, wenn man noch nicht einmal die Wahrheit über seine eigene Familie weiß. Denn eigentlich hat Nono ganz andere Sorgen. Zu gerne möchte er seinen Vater davon überzeugen, Gaby, die Frau, die für ihn wie eine Mutter ist, endlich zu heiraten. Doch davor scheut der Vater zurück. Das scheint mit dem frühen Tod von Nonos leiblicher Mutter Zohara zusammenzuhängen. Allerdings weigert sich sein sonst so offener und vor allem mutiger Papa, ihm nur ein Fitzelchen aus deren Leben zu erzählen. Der ist übrigens – zumindest aus Nonos Sicht – der tollste Polizeikommissar des Landes und der einzige, der jemals den Meisterdieb Felix Glick zu fassen kriegte. Genau um jenen Felix Glick, der an seinen Tatorten einen zickzackförmigen Blitz in Form eines Schmuckanhängers zu hinterlegen pflegt, handelt es sich bei dem sympathischen eleganten Herrn, welchen Nono auf der Zugfahrt zum Onkel trifft. Dass das kein Zufall ist, wird dem jungen Protagonisten wie dem Zuschauer bald klar. Felix, gespielt von Burghart Klaussner, kreuzt nicht nur Nonos Weg, sondern geleitet ihn in eine andere Richtung, führt ihn gleichsam auf eine spannende Reise zu seinen Wurzeln.
"Zickzackkind" lief als nicht nur gelungener, sondern so richtig Lust auf Kino machender Eröffnungsfilm auf der Berlinale 2013v in der Reihe "Kplus". Der flämische Regisseur Vincent Bal präsentierte damit nach "Der Mann aus Stahl" (Belgien 1999) und "Die geheimnisvolle Minusch" (Niederlande 2001) zum dritten Mal einen Spielfilm auf dem wichtigsten deutschen Filmfestival. Als Regisseur und Ko-Drehbuchautor verwandelt er hier den rund 450 Seiten starken Roman "Zickzackkind" von David Grossman in ein eineinhalb Stunden dauerndes Road-Movie, das kleine wie große Zuschauer begeistern dürfte. Die dramaturgisch stimmig eingedampfte Handlung verlegt er von Israel in die Beneluxstaaten und nach Frankreich. Im Buch reisen Felix und Nono nach Tel Aviv ans Meer. Im Film fahren sie an die Côte-d'Azur, um die berühmte Sängerin Lola Ciperola (Isabella Rossellini) zu treffen, deren Lieder Gaby dem Buben immer begeistert auf Vinylplatte zum Mitsingen vorspielte. Nicht ohne Grund – es war ihr heimlicher Hinweis auf eine Verbindung zwischen dem Jungen und der bezaubernden Chanteuse.
Das Titel gebende "Zickzackkind" bezieht sich in Grossmans nachdenklichem und gleichwohl spannendem Roman auf die innere Zerrissenheit des Jungen, der spürt, dass er nicht nur von seinem Vater geprägt ist, sondern noch etwas anderes in ihm schlummert, nämlich das Erbe seiner geheimnisvollen Mutter. Im Film konzentriert sich das vordergründig stärker auf die bildliche Umsetzung des Zeichens, das Felix hinterlässt, aber die andere Bedeutung schwingt stets subtil mit. Hier wie dort erfährt Nono dank Felix und Lola, dass Zohara eine schillernde Persönlichkeit war. Seine Eltern lernten sich kennen und lieben, als der Polizist sie als vermeintliche Einbrecherin in einer Schokoladenfabrik jagte, die in die schöne Szene mündet, in der beide in einem Kessel voller Schokolade landen. Zoharas Tod, als Nono gerade mal ein Jahr alt war, bleibt im Buch vage und wird im Film konkret und fassbar. Alle Entdeckungen, die Nono über seine Familiengeschichte macht, gleiten in gezeigte Fantasievorstellungen des Protagonisten über, in denen er quasi als Zuschauer die Vergangenheit betrachtet. Das funktioniert perfekt, ohne aufgesetzt oder gar kitschig zu wirken. Der erwachsene Zuschauer darf sich dabei über Anspielungen, was den Look betrifft, von Filmen aus den 1960er-Jahren freuen, einer Zeit, in der Buch wie Film verankert sind, selbst wenn Letzterer eher ästhetisch damit spielt, als es inhaltlich zu betonen.
Nach der Berlinale-Vorführung im knallvollen Haus der Kulturen der Welt durfte das Publikum noch Menschen aus dem Filmteam wie Burghart Klaussner und Isabella Rossellini auf der Bühne feiern und befragen. Die charmante Schauspielerin, die darauf achtete, dass die Kinderdarsteller im Vordergrund standen, betonte die Intensität des Kinoerlebnisses, indem sie von einer frühen Leinwand-Erfahrung erzählte: "Ich erinnere mich noch daran, dass ich einmal mit meiner Mutter Ingrid Bergman im Kino war. Es lief ihr Film 'Johanna von Orleans' und ich sah auf der Leinwand, wie meine Mutter verbrannte. Damals hatte ich große Angst, obwohl sie neben mir saß und ich ihre Hand halten konnte." Nicht nur um große Gefühle, sondern auch um Lebenspraktisches ging es. So verriet der Produzent im Kontext des Schokoladebottichs: "Es handelte sich um Schokoladenpudding für rund 10.000 Euro, den wir nach dem Dreh zurück in die Fabrik geschickt haben." Die neugierige Frage des Kindes aus dem Publikum lautete: "Habt ihr die ganze Schokolade aus dem Kessel dann gegessen?" Da konnte man als Erwachsener mal wieder staunen, welche Details das Zielpublikum dieses lustigen, abenteuerlichen und berührenden Films beschäftigt.
Ina Hochreuther
Zu diesem Film siehe auch:
KJK 134-2/2013 - Interview - "Es ist wie bei einem Kaleidoskop – es gibt viele Facetten und in jeder Geschichte stecken immer noch andere Geschichten"
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