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Ausgabe 64-4/1995

DER WEISSE BALLON

BADKONAK-E SEFID

Produktion: Iran 1995 – Drehbuch: Abbas Kiarostami, nach einer Idee von Jafar Panahi und Parviz Shahbazi – Regie: Jafar Panahi – Kamera: Farzad Jowdat – Schnitt: Jafar Panahi – Ton: Mojtaba Mortazavi, Said Ahmadi – Darsteller: Aida Mohammadkhani (Razieh), Mohsen Kalifi, Fereshteh Sadr Orfani, Anna Bourkowska, Mohammad Shahani, Mohammad Bakhtiari – Länge: 85 Min. – Farbe – Verleih: offen – Weltrechte: Farabi Cinema Foundation, Teheran – Altersempfehlung: ab 8 J.

Sicher nicht zufällig weckt der iranische Film "Der weiße Ballon" Assoziationen zu Albert Lamorisses poetischem Meisterwerk "Der rote Ballon", auch wenn sein langsamer, beharrlicher Erzählduktus mit überraschenden Handlungswendungen und klaren, prägnanten Bildern doch eher an die Filme von Abbas Kiarostami ("Wo ist das Haus meines Freundes") erinnert – und das keineswegs zufällig. Denn Regisseur Jafar Panahi (Jg. 1960) ist mit den Filmen des iranischen "Instituts für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Erwachsenen", dem Kiarostami als Leiter vorsteht, groß geworden. Obendrein arbeitete Panahi nach seinem Regiestudium als Assistent von Kiarostami bei dessen Film "Durch den Olivenhain" und begeisterte bei dieser Gelegenheit seinen Lehrmeister für eine seiner eigenen Kinoideen. Kiarostami erklärte sich spontan bereit, das Drehbuch zu entwickeln und fand einen Produzenten für den Film. Das Engagement aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn mit seinem bezaubernden Debütspielfilm wurde Panahi in Cannes 1995 mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet.

"Der weiße Ballon" ist wie eine Parabel angelegt. Er tritt für das Recht der Kinder auf Selbstbestimmung und Eigenverantwortung ein und weist auf die Hindernisse hin, die viele Erwachsene berechtigten kindlichen Bedürfnissen in den Weg legen, selbst wenn sie dem Schein nach auf sie eingehen. Bis zu einem gewissen Grad kann man den Film natürlich auch als eine Parabel auf die iranische Gesellschaft und ihren Umgang mit einzelnen sehen.

Im iranischen Kalender markiert der 21. März nicht nur den Frühlingsanfang, sondern gleichzeitig den Beginn eines neuen Jahres. Traditionell kauft man sich dort zu Neujahr einen Goldfisch als Glücksbringer für das kommende Jahr. Einen solchen Goldfisch wünscht sich auch die siebenjährige Razieh, und sie hat auch schon ein besonders großes und schönes Exemplar bei einem Händler erspäht. Doch die Mutter möchte kein Geld dafür ausgeben, alles Bitten und Flehen hilft nichts. Razieh gibt aber nicht so schnell auf; mit Hilfe ihres Bruders ergattert sie schließlich doch noch die letzte Banknote der Mutter mit der Auflage, das Wechselgeld wieder abzuliefern. Schon an der nächsten Straßenecke entwendet ein Schlangenbeschwörer vor erwachsenem Publikum dem Kind mit einem fiesen Trick das Geld und gibt es erst nach langem Hin und Her wieder zurück. Unterwegs verliert Razieh die Banknote erneut und entdeckt sie erst nach langem Suchen in einem tiefen, vergitterten Kellerschacht, mit bloßen Händen und selbst mit einer Eisenstange unerreichbar. Es dauert seine Zeit, bis sich das Mädchen und ihr herbeigeeilter Bruder bei dem emsigen Besitzer eines nebenstehenden Ladens Gehör verschaffen, der sie dann doch nur auf die nächste Woche vertröstet und ihnen nicht wirklich hilft.

Aber die Zeit drängt, bald beginnen die Feierlichkeiten, schließen die Geschäfte und was, wenn der Händler den auserkorenen Goldfisch in letzter Minute noch an jemand anderen verkaufte? Ein Wettlauf mit der Zeit und der Ignoranz der Erwachsenen beginnt, die viel zu sehr mit ihren eigenen Geschäften zu tun haben, als dass sie auf die Bedürfnisse der Kinder eingehen könnten. Die werden als niedlich und lieb oder als störend und nervend wahrgenommen, man kann sie großzügig beschützen, ihnen Anweisungen geben, die eigenen Stärken herauskehren, sie necken und betrügen, wirklich ernst genommen als Personen werden sie jedoch nicht. Mit Hilfe eines Luftballons gelingt es den Kindern zuguterletzt, ganz allein und aus eigener Anstrengung dann doch noch, den Geldschein herauszuangeln und den Goldfisch zu erwerben.

"Der weiße Ballon" ist ein liebenswerter Film für groß und klein. Er begibt sich in seiner Kameraführung ganz auf die Ebene der Kinder, lässt sich voll auf ihre Sichtweise ein und weist dabei eine überraschend kritische Haltung auf. Razieh, mit ihrem weißen Kopftuch und dem klaren, aufgeweckten Kindergesicht, lässt sich durch die Gebote und Verbote der Erwachsenen nur vorübergehend einschüchtern. Sie beharrt auf ihren Wünschen und auf ihrem Recht, lässt sich ihre eigene Sicht der Dinge von niemandem nehmen. Als kleines Mädchen inmitten einer traditionellen Männergesellschaft spielt sie trotzdem die unumstrittene Hauptrolle und sieht sich in der Lage, den Erwachsenen Paroli zu bieten. Einmal möchte die Mutter nicht, dass sie die Darbietungen der Schlangenbeschwörer sieht, weil ihr das angeblich nicht gut tue. Ihre Antwort kommt prompt und überrascht: "Ich will sehen, was mir nicht gut tut." Eine Gesellschaft im Umbruch?

Holger Twele

 

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