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Ausgabe 140-4/2014

JACK

Bild: JACK
© Camino Filmverleih

Produktion: Port au Prince Film & Kultur Produktion (Berlin), in Koproduktion mit cine plus Filmproduktion GmbH (Berlin), mixtvision Film & TV (München), Neue Bioskop Film Produktions & Vertriebs GmbH (München), Zero West Filmproduktion GmbH (Köln); Deutschland 2013/2014 – Regie: Edward Berger – Buch: Edward Berger, Nele Mueller-Stöfen – Kamera: Jens Harant, Arite Szadkowski – Schnitt: Janina Herhoffer – Musik: Julian Maas, Christoph M. Kaiser – Darsteller: Ivo Pietzcker (Jack), Georg Arms (Manuel), Luise Heyer (Sanna), Nele Mueller-Stöfen (Becki), Antony Arnolds (Danilo), Johann Jürgens (Mattes), Jacob Matschenz (Philipp) – Länge: 103 Min. – Farbe – FSK: ab 6 – FBW: besonders wertvoll – Verleih: Camino Filmverleih – Altersempfehlung: ab 10 J.

Kinder auf der Flucht, das ist ein beliebtes Thema, es sind kleine Ausreißer, die das Abenteuer suchen, die von Zuhause abhauen, die Probleme mit Erwachsenen haben, die ihr Leben in die Hand nehmen und die ein bisschen reifer sein müssen als ihre Altersgenossen. So ein Kind ist auch der Protagonist Jack im Film von Edward Berger: Er ist zehn Jahre alt und hat das Leben voll im Griff, alles ist perfekt organisiert. Er hat gleich mehrere Rollen übernommen, er kümmert sich um den Haushalt, er versorgt seinen sechsjährigen Halbbruder Manuel – sein Alltag ist besser geregelt als der mancher Erwachsener. Das trifft besonders auf die alleinerziehende Mutter Sanna zu, sie lebt ihr Leben und sie liebt ihre Kinder, aber ein geordnetes Familienleben kriegt sie nicht auf die Reihe, sie ist sprunghaft, unzuverlässig und überfordert. Seinen Vater hat Jack nie kennen gelernt, auch der Vater von Manuel ist unbekannt. Und auf das Leben seiner Mutter, die immer wieder auf der Suche nach dem richtigen Mann ist, hat Jack keinen Einfluss. Für seinen kleinen Bruder ist Jack Vater, Mutter und „Kindermädchen“, er will, dass sie zusammenbleiben, dafür nimmt er Belastungen auf sich, die einen Zehnjährigen überfordern müssen.

Ein Kind als Erwachsener, weil die Erwachsenen überfordert sind: Als sich Manuel aus Versehen die Beine beim Baden verbrüht, ist Jack der Einzige, der versucht, Erste Hilfe zu leisten, trotzdem wird er ins Kinderheim abgeschoben. Jack hält es dort nur schwer aus und klammert sich an die Aussicht auf Sommerferien mit seiner Mutter und seinem Bruder. Doch am letzten Schultag wird Jack nicht abgeholt. Seine Mutter Sanna ruft an und vertröstet ihn, Jack bleibt mit dem älteren Heimkind Danilo und den Erziehern allein zurück. Es kommt zu einem Streit, bei dem Jack den sadistischen Danilo verletzt. Verängstigt läuft er nach Hause, um Schutz bei seiner Mutter zu suchen. Doch niemand macht ihm die Tür auf. Sanna ist nicht da. Jack holt seinen Bruder Manuel von einer Freundin der Mutter ab und gemeinsam machen sie sich auf die Suche nach der Mutter. Die Wohnung bleibt verschlossen, Jack und Manuel landen auf der Straße, doch Jack gibt nicht auf, er wird wieder zum Organisator, darin hat er bereits genug Erfahrung: Schlafplätze, Essen und Trinken werden gesucht und gefunden. Über mehrere Tage ziehen sie durch die Stadt, übernachten auf Parkbänken und in leer stehenden Autos in einer Tiefgarage, klauen Kaffeesahne und Tütenzucker, um ihren Hunger zu stillen. Dabei scheint es niemandem aufzufallen, dass sie ganz allein sind.

In dieser Odyssee durch die Stadt erinnert der Film an den DEFA-Klassiker "Sabine Kleist, sieben Jahre", den Helmut Dziuba 1981/82 inzeniert hat: Sabine läuft aus dem Heim davon, irrt zwei Tage und Nächte durch Berlin auf der Suche nach Menschen, denen sie sich anvertrauen kann. Es gibt flüchtige Begegnungen, aber keine Hilfe. So ergeht es auch Jack, die Erwachsenen, die ihm helfen könnten, sind entweder gleichgültig oder feindselig. Und selbst diejenigen, die kurzfristig zur Unterstützung bereit sind, wollen die beiden Kinder schnell wieder loswerden. "Jack" ist noch in anderer Hinsicht ein Gegenstück zu "Sabine Kleist": Der Film spielt fast ausschließlich im Westen Berlins, während Sabine im Osten der damals geteilten Stadt unterwegs war. Und beide gehen erfolgreich in Deckung, wenn die Polizei ins Spiel kommt, ob überwachte Hauptstadt der DDR oder Party-Metropole Berlin, Kinder werden so gut wie gar nicht wahrgenommen. Sabine und Jack haben die gleiche Perspektive, mit ihren Augen schauen die Filme auf die Stadt und das Leben. Es gibt in "Sabine Kleist" eine Szene, in der das Mädchen sich verrenken muss, um über einen für sie zu hohen Tresen zu blicken. Wer klein ist, sieht die Welt aus einem anderen Blickwinkel. Der Film "Jack" setzt das visuell konsequent um, er begibt sich auf Augenhöhe mit seinem kleinen Hauptdarsteller und es stellt sich ein anderer Blick auf die Stadt ein, so wie Kinder sie sehen: In langen, ruhigen Sequenzen, meist ohne Schnitte, wird die Geschichte so beobachtend wie möglich erzählt, die Zuschauer bleiben nah an der Gefühlswelt des Jungen. Jack glaubt an die Liebe seiner Mutter, auch wenn er immer wieder enttäuscht wird. Am Ende zieht er eine bittere Konsequenz, auch eine, in der sich einmal mehr "Sabine Kleist" spiegelt.

Getragen wird der Film vom zehnjährigen Hauptdarsteller Ivo Pietzcker, der "Jack" zu einem einzigartigen und beeindruckenden Werk über Einsamkeit in der Großstadt macht. Für Kinder ist Berlin ein unwirtlicher Ort, die Erwachsenen sind mit sich selbst beschäftigt, doch Edward Berger, der das Drehbuch zusammen mit seiner Frau Nele Mueller-Stöfen verfasst hat, macht daraus kein Sozialdrama, er erhebt auch keinen Zeigefinger, keine Figur wird verurteilt für ihr Verhalten. Das Leben in Berlin ist hart und im Hintergrund steht eine Erkenntnis, die den gegenwärtigen Zustand der deutschen Gesellschaft äußerst zutreffend beschreibt: Verantwortung ist zur Untugend geworden, das gilt im privaten wie im politischen Bereich. Lieber die Augen verschließen, als Verantwortung übernehmen. So entsteht Vernachlässigung von Kindern, die in Schlagzeilen immer wieder kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen wird: Hat denn keiner was gemerkt? Mitgefühl und Aufmerksamkeit für die anderen, vor allem für die Schwächeren, sind abhanden gekommen. Eine wirkungsvolle Gesellschaftskritik, weil sie über ein starkes Kind vermittelt wird.

Manfred Hobsch

Zu diesem Film siehe auch:
KJK 140-4/2014 - Interview - „Der deutsche Film sollte seinen Blick deutlich mehr auf das Drama des Alltäglichen lenken“

 

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