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Ausgabe 140-4/2014

LAND DER WUNDER

Bild: LAND DER WUNDER
© Delphi

LE MERAVIGLIE

Produktion: Temesta Filmproduktion mit RAI Cinema; Italien 2014 – Regie und Buch: Alice Rohrwacher – Kamera: Hélène Louvart – Schnitt: Marco Spoletini – Musik: Piero Crucitti – Darsteller: Maria Alexandra Lungu (Gelsomina), Sam Louwyck (der Vater), Alba Rohrwacher (die Mutter), Sabine Timoteo (Cocò), Agnese Graziani (Marinella), Luis Huilca Logrono (Martin), Monica Bellucci (Milly Catena) – Länge: 111 Min. – Farbe – FSK: ab 0 – Verleih: Delphi Filmverleih – Altersempfehlung: ab 14 J.

Die Stimme dieses Vaters klingt noch lange im Ohr. Ihr rauer, barscher Ton prägt sich dem Zuschauer ein, wie sie bei jeder Kleinigkeit drohend anschwillt und sich zumeist über der ältesten Tochter Gelsomina entlädt, welche wieder einmal nicht sofort zur Stelle war. Die ganze Familie atmet auf, wenn ihr Ernährer der Geschäfte wegen von dem in der Toskana gelegenen Hof fährt. Dann vergnügt sich die Mutter, eine zierliche blonde Frau, mit ihren vier Mädchen schon einmal ausgelassen am Strand des nahen, azurblauen Meers. Denn Freizeit ist kostbar und rar, der Gemüseanbau und die Bienenzucht nehmen alle völlig in Beschlag.

Die Filmemacherin Alice Rohrwacher meidet die sattsam bekannten toskanischen Postkartenidyllen mit sanft geschwungenen und lichten Höhen, welche gerade die deutschen Touristen immer wieder ins Schwärmen bringen oder sie zu einem Kauf der verlassenen Gehöfte verführen, wo sie in ‘einfachsten Verhältnissen’ Erholung vom Großstadtstress suchen. Vielmehr spiegelt sie im Mikrokosmos der Familie, wie die ökonomische Krise und bürokratische Hürden nicht nur das ländliche Italien heimsuchen, traditionelle Bewirtschaftungsformen und die handwerkliche Herstellung regionenspezifischer Genussmittel mehr und mehr zerstören, sondern auch Beziehungen deformieren. Musste diese Kulturlandschaft durch harte Arbeit erst hervorgebracht werden, kann sie mit ihren Erträgen längst nicht mehr alle Bauern ausreichend ernähren. So drücken Geldsorgen allerorten, die jedoch dieser Familienvater nicht wirklich wahrhaben will. Für ihn erledigen sich die Probleme nach einiger Zeit von selbst. Deshalb soll alles wie gewohnt seinen Gang gehen. Mutter und Kinder schuften im Garten, während er mit der ältesten Tochter zu den Bienenstöcken auf das Feld hinausfährt. Dass es aber genau diese Fron ist, welche den Kindern die Freuden einer unbeschwerten Kindheit raubt, macht Rohrwachers Film sehr plastisch. Die Rettung scheint in Gestalt einer Fernsehshow zu nahen, die die besten Erzeuger der regionalen Produkte mit Geld prämiert. Mit deren Moderatorin, einer Diva im Stil einer Callas, zieht ein wenig Glamour in das Dorf ein. Und zudem kann Gelsomina zarte Bande mit dem Jungen Martin knüpfen.

Alice Rohrwachers Sympathie gilt der ältesten Tochter, deren Darstellerin durchaus ähnliche Gesichtszüge wie die der Regisseurin aufweist. Ihr in Cannes preisgekrönter Film beobachtet äußerst genau, ohne jemals anzuklagen, wie das scheue, introvertierte Mädchen vom Lande dabei ist, erwachsen zu werden. Diese Entwicklung vollzieht sich unbemerkt, in aller Stille und kennt nur wenige Glücksmomente. Präzise führt der Film vor, wie Gelsomina dabei von ihrem autoritären Vater – ein desillusionierter Aussteiger, der in seinem Machismo glaubt, über seine rechte Hand nach Belieben verfügen zu können – emotional missbraucht und gehemmt wird. Die Kargheit der bäuerlichen Existenzform spiegelt der Film treffend in den Beziehungen der Familienmitglieder. Deren Leben wird von der ökonomischen Produktion bestimmt, die Gefühle der Wertschätzung und Zuneigung ins Abseits drängt. Keiner der Erwachsenen schenkt den Wünschen der Kinder wirklich Aufmerksamkeit. Auch für die jugendliche Selbsterprobung ist kein Raum vorgesehen. In der mädchenhaft wirkenden Mutter oder in der selbst liebesbedürftigen Freundin der Eltern findet die verhalten agierende Gelsomina wenig Unterstützung dafür, ihre Weiblichkeit zu entdecken. Eine Spange mit einem klitzekleinen Strass-Stein, den ihr die Fernsehmoderatorin schenkt, ist ihr einziger kostbarer Schmuck.

Die Aufmerksamkeit der Erwachsenen dagegen gilt der Natur. Die Luft ist erfüllt vom Summen der schwärmenden Bienen. Doch Rohrwacher schönt weder die Natur noch den Beruf des Bienenzüchters. Wenn dann am Schluss der Hof verlassen daliegt, erscheint die Zerstörung der familiären Existenz zugleich als Lichtblick für die Selbstfindung der Tochter.

Heidi Strobel

 

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KJK-Ausgabe 140/2014

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