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Ausgabe 65-1/1996

"Gewalt ist anstrengend, sie tut weh"

Gespräch mit Ulf Hultberg, Regisseur des Films "Die Tochter des Puma"

(Interview zum Film DIE TOCHTER DES PUMA)

Der schwedische Regisseur Ulf Hultberg realisierte den dokumentarischen Spielfilm "Die Tochter des Puma" gemeinsam mit Åsa Faringer; sie bekamen für diesen Film 1994 in Lübeck den Preis der Nordischen Filminstitute. Außerdem erhielt der Film die Empfehlung der Filmauswahlkommission der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugendbehörden. Atlas Film und das Kinder- und Jugendfilmzentrum haben die nichtgewerblichen Rechte erworben und den Film mit einer Tournee in acht Städten Ende November 1995 gestartet. Das nachfolgende Interview mit Ulf Hultberg entstand beim Frankfurter Kinder- und Jugendfilmfestival 1995.

KJK: Zunächst würden wir gerne wissen, wie sich die Idee, einen Spielfilm über Guatemala zu drehen, entwickelt hat. Und warum ist die Geschichte des Films so nah an der Wirklichkeit gearbeitet, dass er schon dokumentarisch erscheint?
Ulf Hultberg: "Nun, ich habe eigentlich immer mit Dokumentationen gearbeitet; ich war beim schwedischen Fernsehen als Regisseur angestellt, 20 Jahre lang, von 1968 bis 1988. In dieser Zeit widmete ich einen großen Teil meiner Arbeit Themen über Jugend und Kindheit. Viele Dokumentationen entstanden, und die meisten handelten von Lateinamerika. Ich wollte aber auch immer einen fiktiven Film verwirklichen, um eine größere Zahl Jugendlicher und Erwachsener zu erreichen. Es war 1986, als das Buch 'Die Tochter des Puma' von der schwedischen Autorin Monica Zak herauskam. Meine Freundin und ich unternahmen damals eine Bustour nach Spanien. Wir lasen das Buch unterwegs und dann war klar: Ich wollte es machen. Also sprach ich später mit meinem Chef beim Fernsehen, aber der sagte nein. In dieser Zeit bewarb ich mich auch um andere Jobs, bis mir die Organisation 'Rettet das Kind' die Leitung ihres Zentralamerika-Büros in Mexiko anbot. Aber kehren wir zur Entwicklung unserer Filmidee zurück. Während jemand etwas tut, weiß er oft nicht, wie sein Schicksal aussehen wird – wir werden ja noch auf die Mythen der Mayas zu sprechen kommen – jedenfalls war für mich diese Zeit in Zentralamerika eine Art Vorbereitung für den Film."

Hatten Sie denn die ganze Zeit die Geschichte der "Tochter des Puma" im Hinterkopf?
"Ja, und alles, was damit zusammenhängt. Wir waren ja mit allen Beteiligten vertraut, mit COMAR (mexikanische Flüchtlingsorganisation der UNO), mit ACNUR, Unicef, den Organisationen der guatemaltekischen Flüchtlinge in Chiapas, in Campeche und Quintana Roo. Ich war in den meisten der 125 Flüchtlingslager. Aber man muss auch bedenken, dass die Produzenten nicht gerade Schlange standen, um einen solchen Film zu finanzieren. Als ich zurück nach Schweden kam, präsentierte ich dem staatlichen schwedischen Filminstitut meinen ersten Drehbuchentwurf – sie lehnten direkt ab. Ich schrieb 48 Bewerbungen und Anträge in zwölf Länder. Das war die unangenehmste Arbeit bei dieser ganzen Geschichte. Am Ende blieben sieben Finanziers aus zwei Ländern übrig. Mir wurden zu guter Letzt 70 Prozent des Kostenvoranschlags zugesichert, und damit ging ich zu einem Produzenten in Dänemark. Der meinte, 'gut, damit können wir es beim dänischen Filminstitut versuchen'."

Ich hatte manchmal den Eindruck, dass "Die Tochter des Puma" auch ein Film von Oliver Stone sein könnte, mit all der Gewalt, einer Gewalt, die an Kriegsfilme erinnert. Beeindruckend und gleichzeitig schockierend sind vor allem die Szenen, wo ganz plötzlich Gewalt einsetzt, nachdem zuvor in aller Ruhe und Zartheit das Dorfleben dargestellt wurde.
"Ja, aber hier geht es um eine Gewalt, die motiviert ist. Das ist der Unterschied zu Stone oder Tarantino, die übertreffen sich gegenseitig mit Gewaltszenarien, weil die nordamerikanischen Produzenten immer mehr Gewalt sehen wollen."

Ihr Film soll doch ein Jugendfilm sein, ist aber manchmal äußerst brutal. Gab es deswegen nie Kritik an ihrem Film?
"Also, zunächst mal ist es kein Film für Kinder. In Schweden ist er für unter 16-Jährige verboten. Und in der Romanvorlage ist das Mädchen Aschlop zu Beginn zwölf Jahre alt, im Film erscheint sie als etwa 18-Jährige. Nun, Gewalt tut weh. Menschen sind zerbrechlich wie rohe Eier, ihr Schädel ist zerbrechlich. Schon wenn du auf den Kopf fällst, kann der kaputtgehen, oder wenn du so hart angegriffen und geschlagen wirst, wie es im Film zu sehen ist. Erst dachte ich, wir könnten Gewalt so zeigen, dass sie nur in der Phantasie stattfindet. Aber dann haben wir einige Szenen so ausgearbeitet, dass einem die Gewalt regelrecht in den Magen fährt, wenn etwa Pasqual, der in Aschlop verliebt ist, getreten wird. Es sind nicht drei oder vier Tritte, es sind vielleicht sieben oder gar acht, vielleicht etwas zu viele; einige Beobachter meinten, drei Tritte seien genug. Oder in der anderen Szene gegen Ende des Films, wenn Aschlop auf der Demonstration der GAM in Guatemala-Stadt mit den anderen weinend skandiert; sie tut es nicht drei Mal, auch hier sind es zehn Male. Durch diese Intensität werden Geschehnisse wirklich körperlich spürbar.
Gewalt ist anstrengend, sie tut weh; und bei dem Festival in Lübeck war genau dieser Aspekt Grund für die Preisvergabe an uns. Die Jugendlichen brauchen heute mehr denn je die Unterscheidung zwischen realer und kommerzialisierter Gewalt. Sie sehen jeden Tag Kriege im Fernsehen, aber was bedeutet Krieg, wofür steht er? Was sind die Hintergründe dieser Realität, warum gibt es Flüchtlinge hier wie dort, wieso sind sie geflohen? Dieser Film ist für Jugendliche, aber auch für alle anderen gemacht. Er zeigt die gesamte Flüchtlingsproblematik weltweit, die Ursachen, die dazu führen, dass jemand seine Heimat verlässt und in einen anderen Kontinent in eine völlig ungewisse Zukunft flieht."

Kommen wir zur Mythologie der Maya-Indígenas. Im Film ist sehr schön zu sehen, wie die Indígenas auch heute noch die traditionelle Mythologie ihrer Ahnen in ihr alltägliches Leben einbeziehen. Auch im Buch von Monica Zak wird das deutlich. Wie ist die Idee entstanden, diese Mythologie filmisch so darzustellen?
"Mir gefallen Filme wie die über das Leben der Roma von Emir Kusturica, denn er arbeitet mit dem täglichen Wunder, dem Wunder im Alltag. Wir hier kennen das nicht. Wir Weißen sind viel zu schwach und arm in unseren Gedanken, unsere Seelen sind so klein. Wir wissen nichts über die Maya-Kultur, wir haben nie von den Werten dieser Kultur gehört, nie danach gefragt und sie erst recht nicht respektiert. Es wurde so vehement versucht, die Indígenas auszurotten, aber sie leben immer noch, das ist doch eigentlich unglaublich. Dort existiert etwas, das völlig außerhalb dessen liegt, was wir mit unseren klar umrissenen Denkstrukturen erfassen können."

Wo und unter welchen Bedingungen habt Ihr gearbeitet?
"Wir arbeiteten mit guatemaltekischen Flüchtlingen in Mexiko zusammen, im Bundesstaat Chiapas. Der Drehort, das Flüchtlingslager Porvenir I, war kein Zufall. Dort gab es z. B. verschiedene holz- und metallverarbeitende Werkstätten, das heißt, es gab eine Infrastruktur. Ein halbes Jahr vor Drehbeginn kam die Kulissendesignerin. Wir stellten viele Indígenas an, damit sie die Dörfer, in denen alles spielen sollte, nachbauten. Sie haben selbst die Pyramide, die in dem Film zu sehen ist, nachgebaut. Das war nötig, weil wir nicht die Erlaubnis hatten, an einer echten Pyramide in Mexiko zu drehen. Wir arbeiteten also eng mit den Indígenas zusammen. Einerseits waren sie die Handwerker, andererseits waren sie bei diesem Projekt auch die Schöpfer der Darstellung ihrer eigenen Geschichte. Und sie spielten ja schließlich auch mit in der Geschichte ihrer eigenen Vergangenheit. Rigoberta Menchú (Indígena und guatemaltekische Friedensnobelpreisträgerin 1993; Anm. d. Red.) bestätigte uns, dass es das erste Mal gewesen sei, dass Indígenas die entscheidenden Rollen in der Produktion eines Films übernommen haben.
Wir haben uns auch auf die Rituale der Mayas eingelassen. Zum Beispiel empfingen wir jeden Tag vor Drehbeginn den Segen eines traditionellen Fürbitters und zusammen mit den Indígenas Opfer dargebracht. Wir arbeiteten mit 50 mexikanischen Technikern zusammen, dazu kamen der dänische Kameramann und wir beiden Schweden, und alle nahmen an diesem Akt teil. Angeles Cruz, die Hauptdarstellerin im Film, hat übrigens auch einen eigenen Schutzgeist, ihren Nagual. Sie ist ja selbst Indígena und kommt aus einem Dorf in Oaxaca. Ihr Vater war ein Maya-Priester, sehr arm und sehr weise. Er hat Angeles in diesen Dingen unterrichtet, und eine Lehrerin unterstützte die Familie, damit Angeles in die Schule gehen konnte. Schon dort stellte man fest, dass sie sich für Schauspielerei interessierte, und so wurde dafür gesorgt, dass sie an die 'Schule der Schönen Künste' gehen konnte. Dort war sie prompt die beste Schülerin. Sie ist auch von ihrer eigenen Geschichte gezeichnet. Ihr Bruder wurde während einer Demonstration von mexikanischen Soldaten ermordet. Das heißt, sie war sich sehr bewusst, welche Rolle sie im Film spielen würde."

Einige Momente in diesem Film finden wir klischeehaft, zum Beispiel das Verhör Aschlops im Gefängnis des Geheimdienstes. Der Ermittler wirkt dort etwas übertrieben.
"Ja, diese Kritik haben wir schon mehrfach gehört, auch über den Kommandanten der Kaibiles, mit seiner Sonnenbrille, der dicken Uhr etc. 'So sind die nicht', sagte man, aber so sind sie eben tatsächlich. Wir hatten dieses Buch 'Eternal Spring, Eternal Tyrany' von Jean-Marie Simon immer bei uns. Es war für uns so etwas wie eine Bibel, denn für die gesamte Ausstattung und Darstellung waren dort authentische Beispiele zu sehen. Da ist z. B. das Foto eines Kaibil-Kommandanten, der unserem sehr ähnlich ist, sein Aussehen und die ganze Wirkung seiner Person. Außerdem haben wir mit mehreren Guatemalteken über die Persönlichkeit der Geheimdienstler gesprochen. Und demnach sind diese Leute oft eben genau so, so freundlich, so gepflegt. Sie haben ihre Familie mit Kindern, ihre Nachbarn und ein völlig normales soziales Leben. Und sie achten darauf, sich nicht die Finger schmutzig zu machen. Das hat was Diabolisches."

Nun zur Auflösung des Films am Ende: Wie ist es gedacht, wenn Aschlops Bruder Mateo aus der Kirche im überbelichteten Ausgang verschwindet wie Christus bei seiner Himmelfahrt. Ist das ein Symbol für die Hoffnung im Kampf gegen die Unterdrückung, oder hat er tatsächlich überlebt?
"Nun, wer ein Auge für diese andere, irreale Ebene hat, für den ist er natürlich tot, aber er geht in ein anderes Sein über, wenn er die Kirche da im Licht verlässt. Für Rigoberta Menchú z. B. ist es eindeutig, ihre Interpretation ist ganz klar: Mateo kommt in den Träumen von Aschlop zurück, um ihr Sicherheit und Kraft zu geben, weiterzukämpfen. Die Mayas müssen sich vielleicht nicht wirklich hier auf der Erde vom Leben trennen, sondern das Leben besteht für sie eben aus den beiden Teilen, hier und jenseits des Todes. Andererseits sind die Worte Mateos über den Kampf, den Aschlop auch in Mexiko führen könne, sehr real. Denn exakt dort, wo wir diese Szenen, die in Guatemala-Stadt spielen, gedreht haben, nämlich in San Cristóbal de las Casas, sprach sechs Monate später Subcomándante Marcos (Sprecher der zapatistischen Befreiungsarmee EZLN, Chiapas, Mexiko; Anm. d. Red.) zu den Menschen. Das heißt, der reale Aufstand begann dort. Dieser Zusammenhang ist offenkundig, und deshalb ist der Film nicht nur in Guatemala, sondern auch in Mexiko verboten worden. Hinsichtlich der spirituellen Mythologie ist das Ende des Films eine Interpretation auf der Basis der Erfahrungen und Weltsicht der Mayas, auf ihrer Ebene des Denkens."

Das Gespräch führten Stefan Efferth und Herby Sachs

Arbeitsmaterialien

1.: Beiheft zum Film "Die Tochter des Puma", Hrsg.: KJF und atlas film + av, 1995
2.: Pumas Tochter: Ein Buch, ein Film, ein Projekt

 

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